Zufußgehen: Die Heldentat des Alltags
17.11.2021
Gesellschaft
17.11.2021
Gesellschaft
Gehen ist des Menschen beste Medizin. Das sagte Hippokrates von Kos, griechischer Arzt und Vater der Heilkunde vor rund 2400 Jahren. Heute ist Zufußgehen angesagter als je zuvor. „Ich habe Landschaftsplanung in Kassel studiert, da gab es ein Seminar mit dem Namen Spaziergangswissenschaft. Da war sie – die Inspiration für meinen Job. Seit 25 Jahren bin ich Spaziergangsforscher. Im Kern geht es bei meinen Projekten darum, wie man die Welt aus der Perspektive des Gehens wahrnimmt“, sagt Bertram Weisshaar.
Die Spaziergangswissenschaft geht davon aus, dass die Art und Weise, wie wir uns bewegen, das Bild unseres Verständnisses der Welt bedinge. Weisshaar erklärt: „Wenn ich jeden Tag meine Wege entweder mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto oder zu Fuß mache, komme ich immer zu einem anderen Bild derselben Stadt.
Durch die Wahl meiner Fortbewegung finde ich unterschiedliche Verknüpfungen in der Stadt – je nachdem, wie ich mich durch den Raum bewege. Als Fußgänger habe ich zwar einen kleineren Radius, komme aber fast überall hin.“
„Das Verblüffende bei Stadtspaziergängen sind die räumlichen Zusammenhänge in der Stadt – wie weit ist es von A nach B? Es gibt ja eingeübte Wege, aber plötzlich entdeckt man aber noch einen anderen Weg. Über das Gehen bekommt man einen ganz unmittelbaren Maßstab. Ich vermesse das mit meinen Schritten… dann ist ein halber Kilometer in einer Fußgängerzone was ganz anderes wie ein halber Kilometer entlang einer sechsspurig befahrenen Straße. Das kann man nur zu Fuß unterwegs erfahren!“, sagt der deutsche Experte.
Ob Sie nun die Mutter sind, die ihren Sohn in die Schule bringt oder der Student, der eine halbe Stunde früher aufsteht, um zu Fuß durch drei Bezirke zur Uni zu gehen. Oder die Seniorin, die unterwegs zum Pilates-Training ist. Oder der Geschäftsmann, der zur Straßenbahn läuft, um pünktlich im Büro zu sein. Sie gehören zur Lobby des umweltfreundlichsten Verkehrsmittels und zählen zu den gesündesten aller Verkehrsteilnehmer.
Ja, es ist ein Fakt: Das Gehen ist die umweltverträglichste Art der Fortbewegung. Im Blick auf die notwendigen Maßnahmen gegen den Klimawandel müssen sich Städte und Dörfer verändern. In Richtung eines umweltfreundlichen Mobilitätsverhaltens: dem Zufußgehen. Aber wie?
Wenn wir heute übers Gehen in Städten nachdenken, muss dieser Mann Teil der Diskussion sein: Eugene Quinn. „Ich erzähle Geschichten vom Gehen, wie es uns inspiriert und Gemeinschaften aufbaut“, beschreibt Eugene seine Arbeit und fährt fort: „Meine Arbeit dreht sich um die Romantik des urbanen Gehens. Die Anderen kümmern sich um die Maßnahmen und das Regelwerk.“
Ich frage ihn: „When I first saw you, you walked in a TEDxVienna Talk through Vienna and ended up on stage of the conference venue – it wasn’t just the way you chose to walk your talk that will always be remembered but also what you said: ‚Walkers are different.‘ You have been a thought leader and an ambassador for walking in the city for many years. What’s your motivation?“ Eugene antwortet: „Walking is just part of a bigger story – to encourage people to belong, to meet each other and form community, and improve their mental health and creativity. I see walking as city storytelling. Of course, we also need a strategic engagement with the politics of walking. Because walking covers so many different areas of policy, from health to environment, mobility to economy, sport to safety and leisure. We need joined-up thinking from top-down. Walking is such an easy win for leaders, because it is free and brings so many advantages. Yet it remains neglected. However, I have problems when walking is reduced to something technical – about measuring street-lighting or the width of pavements, instead of the freedom, joy and social romance of being out on the streets, meeting people, building lively neighbourhoods, and feeling good in the sunshine.“
Ich frage ihn: „What are you asking for?“ Eugene erklärt: „We need to tell better stories about what walking means, at a community level. It can inspire us, and help our creative thinking, with blood flowing and air in our lungs. Get off your computer, and into your city. I am more interested in practice than theory. I am a big fan of the work of Platz für Wien, in campaigning for a more just division of public space – and holding politicians to their pre-election promises on climate change moves. There are so many better uses for streetspace than cars.“
„What is your favourite walking city?“ Eugene: „My favourite walking city? Undoubtedly Vienna: for all its secrets, its sheer beauty, layers of history and wonderful walking app (wienzufuss). One fascinating thing here is that you always meet people you know on the streets of Wien. This rarely happens in London. My son and I go looking for the creative chaos I know and love from London, here in Wien. But there is too much ‚Ordnung‘ for my taste here in Central Europe. So we go to Lugner City shopping centre on Saturdays, and Billa at Praterstern on Sundays, for the Felliniesque joy and mess of so many foreigners desperately looking for food at the weekends in Wien. Apart from my adopted hometown Vienna, I do recommend walking in Arles, Provence. It offers Roman architecture, a world-class photography expo, wonderful Roma music and great food. The people have charisma and curiosity, but it is a town of just 50k people. The light attracted Picasso and van Gogh. We at Whoosh celebrate the city.“
„Diese Denkweise ist relevant für die Planung, da es gerade in der Verkehrsplanung darum geht, einen möglichst guten Kompromiss auszuhandeln“, ist der deutsche Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar überzeugt und fährt fort: „Es gibt nie nur eine Lösung. Was für die einen ein Vorteil ist, ist für die anderen eine Begrenzung. Daher kommt es darauf an, dass man Kompromisse findet, die alle gleichermaßen zu ihrem Recht kommen lässt.
Die Fußgänger sind hauptsächlich stumm. Die wissen ja gar nicht, dass sie Verkehr sind und dass sie ihre Interessen artikulieren müssen. Die Radfahrer haben es in den letzten Jahren gut verstanden, eine Lobby aufzubauen. Und die Autofahrer haben überhaupt seit 100 Jahren eine Lobby.
Das Thema Zufußgehen ist nun endlich in den Stadtverwaltungen und in der Kommunalpolitik und zunehmend bei der Bürgern angekommen, die merken, wir kommen unter die Räder, wenn wir uns nicht organisieren und zu Wort melden.“
Dieter Schwab ist überzeugt: „Zu Fuß gehen ist nicht nur zu Fuß gehen – modern leben in der Stadt ist multimodales Mobilitätsverhalten. Leute sind angehalten, die unterschiedlichen Mobilitätsmöglichkeiten wahrzunehmen.
Im Oktober 2021 fand die österreichische Fachkonferenz für Fußgänger statt. „Gut zu Fuß – Strategien und Vorgangsweisen für Städte und Kommunen“ lautete der Titel der Konferenz, die innovative Projekte und Methoden im Bereich des Fußverkehrs vorstellte. Zentrales Anliegen der Konferenz ist die Stärkung des Fußverkehrs.
Neben der Vorstellung des Aktionsprogramms klimaaktiv mobil wurde auch der Masterplan Gehen und kommunale Strategien zur „Mobilität der Zukunft“ – präsentiert. Unter anderem wurden aktuelle Strategien aus Paris, Basel, Berlin und Salzburg vorgestellt. Weitere interessante Themen: fußverkehrsfreundliche Gestaltungen des öffentlichen Raumes, Schulstraßen und Freiräume mit Qualitäten für den Aufenthalt und das Gehen.
Mit dem Masterplan Gehen wurde erstmals ein strategischer Rahmen zur Förderung des Fußgänger:innenverkehrs in Österreich geschaffen.
Der Masterplan Gehen soll …
„Entstanden ist alles vor 15 Jahren bei der Walk-Space Konferenz in Zürich. Da ist postuliert worden, dass sich in Österreich niemand engagiert fürs Zufußgehen. Ich habe diese Kritik mit nach Österreich genommen und einige Jahre mit Bekannten und Freunden immer wieder besprochen, ob wir da was auf die Beine stellen können“, berichtet Dieter Schwab.
„Die Schweizer Kollegen haben Fußgängerpreise vergeben, einen Walk Space-Award, den wir dann auch in Österreich eingeführt haben. Wir haben auch eine Innovationsplattform ins Leben gerufen. 30% unseres Jahresbudgets finanzieren wir über Mitgliederbeiträge; unsere Mitglieder sind Institutionen, Kommunen und Einzelpersonen. Und 2/3 des Jahresbudgets sind projektfinanziert. Wenn wir eine Konferenz machen, gibt es Teilnahmegebühren. Es gibt auch Kooperationen mit Fördergebern, klimaaktiv mobil ist eine wichtige Schiene.
Das ist für Entscheidungsträger in Kommunen interessant. Klimaaktiv mobil ist eine neue Förderschiene – die unter der neuen Bundesministerin Leonore Gewessler gestartet wurde – wo Fußgängerprojekte, kommunale Umgestaltungen, Begegnungszonen, bauliche Umgestaltungen auf Bundesebenen als Förderprogramm eingereicht werden können.
Man möchte die Anregung geben, dass man sich überlegt, wohin die Reise geht. Da kann man Fußgängerchecks vorschalten. Man könnte dort und da eine Schulstraße machen, man könnte Querungspunkte sicherer machen. Einreichen können nur Kommunen.“
Dieter Schwab macht im Interview auf das attraktive Förderprogramm für Kommunen aufmerksam: „Wenn man in seinem Entscheidungsbereich beim Thema Zufußgehen eine Co-Finanzierung sucht, kann man im Rahmen des klimaaktiv mobil Programms ein Konzept schnüren und 3-4 Projektelemente einreichen, z.B. die Umgestaltung rund um eine Schule oder Ideen für eine Verkehrsberuhigung oder eine Bewusstseinskampagne.“
Das Gehen ist für viele Menschen durch die Corona-Pandemie sehr wichtig geworden. Zufußgehen ist ein Trend. Dipl.-Ing. Dieter Schwab, Obmann vom österreichischen Verein für Fußgängeren walk space, erklärt: „Wenn man aufs Thema ‚zu Fuß gehen‘ zu sprechen kommt, sagen viele Leute: ‚Ich weiß, ich sollte meine 10.000 Schritte gehen, damit ich mir was gutes tue.‘ Nach den Covid Lockdowns haben sich die Leute die Freiheit des Gehens nicht mehr nehmen lassen.“
Die Entscheidungsträger wüssten inzwischen, so Schwab, dass die Bevölkerung Lebensqualität, eine Aufenthaltsqualität und belebte Zentren einfordern und sich schön gestaltete Straßen, Schanigärten und sichere Schulumfelder wünschen, die für Kinder und Jugendliche interessante Räume sind.
Was braucht eine Stadt, um Fußgängerinnen und Fußgänger langfristig zum Fußvolk zu machen? Stellen Sie sich eine ganz simple Frage: Welche Städte bereisen Sie gerne im Urlaub? Sind das eher verkehrsberuhigte Städte, die Abwechslung bieten und doch klar strukturiert sind? Wo man viel sehen und erleben kann, und nicht verloren geht, flaniert man gerne.
Je höher die Siedlungsdichte, desto mehr Fußverkehr. Das bedingt attraktive und spannende Erdgeschoßzonen. Der Flaneur will entdecken und nicht an gesichtslosen Garageneinfahrten und leerstehenden und verstaubten Geschäftsflächen vorbeispazieren.
Auf Initiative der Wiener Mobilitätsagentur werden seit dem Jahr 2017 Bewegungsspiele in Wiener Grätzln durchgeführt. Das sind groß angelegte Aktionen in einem Grätzl unter Beteiligung von über tausend Mitspielern. Mehrere Teams wetteifern darin, innerhalb der Spieldauer von sechs Wochen die meisten Wege zu Fuß zurück zu legen. Gemessen werden gegangene Strecken mittels Chipkarten an Registrierboxen im öffentlichen Raum. Diese Bewegungsspiele haben viele Vorteile, sie fördern:
Die Fußgängerbeauftragte Petra Jens berichtet von drei Beispielen aus Wien:
Bertram Weisshaar schmunzelt beim Gedanken an seine Vision der Zukunft und sagt: „Wenn man mal schaut, wieviel Fläche für den ruhenden motorisierten Verkehr in Städten in Anspruch genommen wird, schüttelt man den Kopf.
Stellen wir ein Gedankenexperiment an: Nehmen wir an, dass wir mit 20% der Autos, die wir heute verwenden, auskommen. 23h am Tag stehen die ‚Dinger‘ (Autos) ‚rum, dabei könnten 24 Leute 1 Auto nutzen. Man könnte also mit einem Fünftel der Automenge auskommen.
Wenn man durch die Stadt läuft und sich von 5 Autos 4 wegdenkt, wie viel Fläche wäre da plötzlich fürs Spielen, für Grünes, für Brunnen, für Plätze, da würden wir viele neue Flächen gewinnen! Man stellt sich vor, in 10 Jahren kämen wir mit einem Fünftel der Fahrzeuge aus. Dann haben wir eine ganz andere Stadt.“
Ich habe einen youtube-Kanal begonnen, „talk-walks“, wo ich versuche, über kleine Filmchen und mit Bildern, die im Gehen entstehen zu zeigen, wie es wäre, wenn die Stadt für Fußgänger umgebaut wird. Da gibt es von Kassel ein überzeugendes Beispiele, wo eine 4-spurige Straße zu einer 2-spurigen rückgebaut wurde und zwei Fahrspuren in einen Gehweg verwandelt wurden: die Goethestrasse in Kassel.
Laut VCÖ (Verkehrsclub Österreich) machte die Covid-19-Pandemie sichtbar, dass es in den Städten rund um den Erdball zu wenig Platz zum Gehen und Radfahren gibt. Viele Metropolen handelten rasch und sperrten Straßen oder einen Teil davon für den Kfz-Verkehr und räumten den Fußgängern sowie dem Radverkehr mehr Platz ein. Hier einige Beispiele:
Um den Sicherheitsabstand wahren zu können, wurden in Barcelona zwölf Kilometer Auto-Straßen zu Fußgängerzonen. Weiters wurden auf 21 Kilometern Straßen Pop-Up Radwege umgesetzt.
Im Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin wurden Pop-up Fahrradstrecken von rund 15 Kilometern geschaffen, die nach und nach in sichere Radwege umgebaut werden sollen.
In Brüssel wurde die gesamte Innenstadt zur Vorrangzone für Radfahre und Fußgänger. Autofahrer müssen sich an ein Tempolimit von 20km/h halten.
In Lissabon werden Parkplätze durch Gastgärten für Cafés und Restaurants ersetzt, in der Stadt wird flächendeckend Tempo 30 umgesetzt. Dass Radwegenetz wird ausgebaut, inklusive Pop-up Radwege von rund 25 Kilometer. Es sollen 7.750 Abstellplätze für Fahrräder errichtet werden. Die Stadt stellt darüber hinaus drei Millionen Euro für Förderungen von Fahrradanschaffungen zur Verfügung.
In Paris sollen 650 Kilometer neue Radwege entstehen, 50 Kilometer Radwege wurden kurzfristig als Entlastung der U-Bahnen umgesetzt.
In Rom wurde der Plan zum Ausbau von rund 150 Kilometern temporären sowie bleibenden Radwegen bestätigt. Vor der Pandemie waren Roms Radwege oft unzusammenhängend.
In Tel Aviv werden elf Straßen im Stadtzentrum in Fußgängerzonen umgewandelt.
Neuseeland war Vorreiter bezüglich der finanziellen Förderung von Pop-up Radwegen während der Corona Krise. Im Zuge dessen werden die Radwege in Auckland um rund 17 Kilometer erweitert.
In Vancouver wurden vorübergehend Straßen für den motorisierten Individualverkehr geschlossen und zu Fuß- bzw. Radwegen umgewandelt. Weiters transformierte man zwei Hauptstraßen von Einbahnstraßen in Multifunktionswegen.
https://cyclingmagazine.ca/sections/news/while-many-canadian-cities-implement-emergency-bike-lanes-some-lag-behind-in-their-response/
„Das Spannende in dieser Zeit ist, dass wir an Themen arbeiten, die notwendiger sind, als je zuvor, vor allem, weil sie nicht überall stattfinden“, ist Dieter Schwab überzeugt. „Ich habe das Gefühl, dass wir Pionierarbeit machen und das fühlt sich gut an. Wir haben in unserer Arbeit mit verschiedenen Generationen zu tun.
Wenn umgestaltet und realisiert wird, dann bekommt das, wofür man brennt, einen Nutzen und das hat einen großen Reiz. Vor 15 Jahren haben wir noch Klinken geputzt und jetzt machen viele Leute begeistert mit. Es scheitert auch nicht mehr am Geld“, fasst Schwab die Vorteile seiner Tätigkeit zusammen.
Auf die Frage, wo sich am meisten bewegt hat, meint er: „Am Bewusstsein – man ist stolz auf eine Stadt, in der der Autoverkehr zurückgeht und wo man Orte nur für Fußgänger, wie zum Beispiel Fußgängerbrücken baut – das ist salonfähig geworden.“
Bertram Weisshaar addiert: „Es gibt viele Aspekte des Zufußgehens, die in der Kommune gestaltet und ausdifferenziert werden müssen, aber für die es noch viele Restriktionen gibt. Ergo müssen diese Aspekte auf nationaler Ebene neu formuliert werden. Da ist der Masterplan Gehen definitiv eine gute Sache.“
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