Die Coronakrise stellt viele Wohnkonzepte auf den Prüfstand. Architekten und Stadtplaner erwarten langfristige Veränderungen – von der Raum- und Wohnviertelgestaltung bis hin zu mehr Energieeffizienz.
Die Coronakrise stellt viele Wohnkonzepte auf den Prüfstand. Architekten und Stadtplaner erwarten langfristige Veränderungen – von der Raum- und Wohnviertelgestaltung bis hin zu mehr Energieeffizienz.
Aktuelle Trends für neue Wohnkonzepte
Nach der gängigen Vorstellung entwerfen Architekten Wohnkonzepte, die das Zusammenleben fördern, Nähe schaffen und Austausch erlauben. Die gegenwärtigen Lockdowns und die damit verbundenen Umstellungen der Arbeits- und Schulwelt verändern jedoch die Ansprüche und Anforderungen an Wohnräume.
Viele Architekten machen sich daher Gedanken darüber, welche Lehren aus dieser Krise gezogen werden können und wie sich Wohnkonzepte in den nächsten Jahren entwickeln werden. Vor allem drei Wohntrends lassen sich derzeit ablesen:
1. Flexible Grundrisse
Wenn die eigene Wohnung gleichzeitig für Arbeit, Schule, Sport und Kochen genutzt werden muss, sind flexible und multifunktionale Grundrisse unerlässlich.
Das gilt insbesondere in Hinblick auf die aus Kostengründen immer kleiner werdenden Wohnungen, die eine variable Nutzung durch z.B. flexible Wandsysteme wünschenswert machen.
Viele Familien haben in der Krise auch erkannt, wie wichtig persönliche Bereiche sind. Das Zusammenlegen von Küche, Esszimmer, Wohnraum sowie Arbeitsbereich hat sich vielfach als schwierig herausgestellt.
Wohnkonzepte mit offenen Grundrissen werden daher möglicherweise schon bald durch Wohnkonzepte mit flexiblen Grundrissen abgelöst.
Variable Gestaltungsmöglichkeiten würden auch nach Corona der ständig steigenden Anzahl an EPUs in Österreich zugutekommen. Für viele sind 3-Zimmer-Wohnungen in Ballungsräumen nicht erschwinglich.
Gleichzeitig sind 2-Zimmer-Wohnungen heute oft mit Wohnküchen ausgestattet, die kaum Platz für einen angenehmen Arbeitsbereich ermöglichen. Multifunktionale Grundrisse könnten daher in Zukunft nicht nur generell mehr Flexibilität bieten, sondern auch eine wertvolle Verbesserung für Menschen darstellen, die im Home-Office arbeiten.
2. Wohnkonzepte mit mehr Freiflächen
Wie wichtig Freiflächen für das Wohlbefinden von Menschen sind, verdeutlicht beispielsweise die neue Bedeutung von Balkonen für das Zusammensein auf Distanz.
Aus vielen Ländern gibt es Videos im Internet, die zeigen, wie sich Menschen von Balkonen Mut zurufen, miteinander singen und Partys feiern.
Doch nicht nur Balkone oder Terrassen, auch Grünflächen rund um die Wohnung gewinnen an Bedeutung – insbesondere für jene, die in Appartements ohne Freiräume leben und neben dem Homeoffice auch noch ihre Kinder im Homeschooling betreuen müssen.
Freiflächen seien in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden, meint Zukunftsforscherin Oona Horx: „Balkone oder eine geteilte Terrasse sollten ein Grundrecht sein. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass Freiflächen kein Ort für Gerümpel sind, sondern ein Platz zwischen persönlichem und öffentlichem Raum. Sie bieten frische Luft und Kontakt zu Nachbarn.“
Die Sehnsucht nach mehr Freiraum könnte zukünftig aber auch kleinere Städte und ländliche Gebiete durch den Zulauf ungebundener Arbeitnehmer bzw. digitaler Nomaden stärken, die aus der Enge der Lockdowns in Wien und den Landeshauptstädten flüchten.
3. Intelligentes Energiemanagement
Einen weiteren Umschwung während und nach der Coronavirus-Zeit prognostizieren Experten zudem beim Thema Heizungskomfort.
Weil vermutlich die Zahl der Homeoffice-Arbeitsplätze steigen wird, geht man davon aus, dass sich immer mehr Menschen intensiver mit energieeffizienten Lösungen und intelligentem Energiemanagement beschäftigen werden.
Aus demselben Grund rücken Gesichtspunkte wie Luftqualität und Lärmbelastung in den Fokus.
Themen wie automatisierte Beschattungssysteme, Stromgewinnung aus Fotovoltaikanlagen, Fußbodenheizungen mit Niedrigenergie, Dreifachverglasung, spezialbeschichtete Fenster, bessere Wärmedämmung und stärkere Abdichtungen werden an Bedeutung gewinnen.
Homeoffice könnte nach der Corona-Krise in Österreich sogar steigen
Vor dem 2. Lockdown appellierte die Regierung zwar wieder an Unternehmen, Homeoffice möglich zu machen, jedoch nutzten schon im Spätsommer weniger Unternehmen Homeoffice als Alternative.
Laut Statistik Austria arbeiteten im 3. Quartal des Jahres 19,6 Prozent (bzw. 700.900 Erwerbstätige) von zuhause aus – das entspricht einem Rückgang von 11 Prozentpunkten gegenüber dem Vorquartal. Lediglich 8,5 Prozent haben Corona bedingt im Homeoffice gearbeitet (- 14,3 Prozentpunkte).
Eine aktuelle Umfrage des Jobportals karriere.at zeigt allerdings, dass insgesamt 94 Prozent der befragten Arbeitnehmer am liebsten im Homeoffice arbeiten oder zumindest gerne die Wahl haben würden.
Seitens der Arbeitgeber sind immerhin 66 Prozentfür eine Wahlfreiheit der Arbeitnehmer und für 22 Prozent ist Homeoffice auch nach Corona eine Option. Homeoffice wird also auch nach der Pandemie ein wichtiges Thema bleiben und entsprechende Wohnkonzepte erforderlich machen.
Das Homeoffice-Gesetz soll in Österreich erst im März 2021 kommen, bis dahin gelten die Vereinbarungen der Sozialpartner. Es wird sich zeigen, wie Österreichs Unternehmen mit dieser rechtlichen Grundlage und nach einem Ende der Pandemie mit dem Thema Homeoffice umgehen werden.
Die autarke Post-Covid Stadt
Um in Zukunft auf Lockdown-Situationen besser vorbereitet zu sein, hat China als Ursprungsland des Corona-Virus vergangenes Jahr einen internationalen Wettbewerb für die Gestaltung neuer Wohnkonzepte ausgeschrieben.
Als Gewinner ging das spanische Architekturbüro Guallart Architects mit seinem Zwiebelschichten-Modell der „autarken Stadt“ hervor. Das Konzept verbindet traditionelle europäische Stadtblöcke mit modernen chinesischen Türmen, die in Holzbauweise errichtet werden sollen.
Das Gebäude verfügt über ein internes Stoffwechselsystem, das Energieerzeugung, recyceltes Wasser, Lebensmittelproduktion und Materialwiederverwendung integriert. Darüber hinaus fördert das Konzept ein dezentrales Modell für das Stadtmanagement.
Wir können nicht mehr weiter Städte und Gebäude entwerfen, als ob nichts geschehen wäre. Unser Vorschlag entspringt der Notwendigkeit, Lösungen für die verschiedenen Krisen zu finden, die sich gleichzeitig auf unserem Planeten abspielen, um ein neues städtisches Leben auf der Grundlage der zirkulären Bioökonomie zu schaffen.
Vincente Guallart, Architekt
Sämtliche Gebäude sind von Gewächshäusern und Solarpaneelen bedeckt, die eine autarke Energie- und Lebensmittelversorgung sicherstellen.
Weiters sind jeder Schicht bestimmte Funktionen zugeordnet. Im innersten Bereich befinden sich Wohnungen, die alle über eine großzügige Terrasse und Telearbeitsplätze verfügen. Der Anschluss an das Internet erfolgt durch ein autark funktionierendes 5G-Netz.
In den Erdgeschossen sind kleine digitale Fabriken angesiedelt, die auf Basis von Rapid-Prototyping-Verfahren und 3D-Druckersystemen schnell und unkompliziert Produkte des täglichen Bedarfs herstellen können.
In der äußersten Zwiebelschicht finden sich dann Büros, Geschäfte, Supermärkte, ein Kindergarten, ein Schwimmbad, ein Verwaltungszentrum und eine Feuerwache.
Variabler Wohnbau
Homeoffice wird voraussichtlich auch nach dem Lockdown in vielen Unternehmen bestehen bleiben. Wie Wohnkonzepte aussehen können, die dieser Entwicklung Rechnung tragen, hat das Kölner Architekturbüro Schulte anhand eigener Erfahrungen während des Lockdowns erarbeitet.
Inspiriert ist das Konzept vom „Haus ohne Eigenschaften“ des Architekten O.M. Ungers. In Anlehnung an den Roman „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil hat Ungers die konventionellen Wohnformen des Einfamilienhauses hinterfragt und die Hierarchie der Räume (Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer etc.) aufgelöst.
Das Haus ist nicht mehr in einzelne Räume unterteilt, sondern durch flexible Wohnräume gekennzeichnet, die an die Bedürfnisse der Nutzer angepasst werden können.
Flexibilität durch Räume ohne Eigenschaften
Das entwickelte Wohnkonzept „Räume ohne Eigenschaften“ basiert auf möglichst offenen Grundrissen, die sich flexibel gestalten lassen. Das Architektenteam fokussierte auf Räume mit einer hohen inneren Veränderbarkeit und durchgehender Barrierefreiheit.
Auf diese Weise können Bewohner auf verschiedene Anforderungen, wie z.B. einen Lockdown, besser reagieren. Dabei geht es vor allem um einen kleinen Flächengewinn von 2-3 m² sowie eine ökonomische Flächenaufteilung des Wohnraums.
Dadurch werden abtrennbare Arbeitsnischen oder beliebige Nutzungsqualitäten ermöglicht. Zusätzlich zu privaten Räumlichkeiten könnten „Räume ohne Eigenschaften“ für die gemeinsame Nutzung der Hausbewohner entstehen (Co-Working, Werkraum, Besucherappartement, etc.).
Großraumbüros sind nicht mehr zeitgemäß
Die Architekten gehen davon aus, dass Großraumbüros nach Corona keine Zukunft mehr haben werden. Eine mit dem Homeoffice einhergehende reduzierte Nutzung von Büroflächen könnte aber für die Schaffung von größeren und flexibleren Wohnungen genutzt werden.
Die Umnutzung von bestehenden Büroflächen könnte zudem interessante Live’n’Work – Konzepte hervorbringen.
Übertragung des Konzeptes auf die Stadt
Das Konzept lässt sich auch auf das Stadtgefüge übertragen. Nutzungsoffene Gebäudestrukturen würden die funktionale Gliederung der Stadt (Wohn-, Gewerbe-, Büroviertel) aufbrechen und eine kleinteiligere Durchmischung ermöglichen.
Damit ist auch eine bessere Anpassung an städtische Entwicklungen möglich. Mehr dazu, wohin sich die aktuelle Stadtplanung entwickeln kann, lesen Sie in einem ausführlichen Interview mit Helena Schulte.
Parc de la Distance in Wien
Für internationales Aufsehen sorgte vergangenes Jahr das in Österreich ansässige Studio Precht mit seinem „Parc de la Distance“. Inspiriert von der Schließung der Bundesgärten in Wien während des ersten Lockdowns entwarf Chris Precht eine neue Art von sozial distanziertem Park für ein ein leeres Grundstück in Wien zwischen den berühmten Gärten Schönbrunn und Belvedere.
Der Park würde zahlreiche Routen haben, die durch 90 Zentimeter breite Hecken unterteilt sind. Damit wird ein sicherer, physischer Abstand zwischen den Besuchern des Parks aufrechterhalten.
Durch Anordnen der Pfade in einem Wirbelmuster in Form eines Fingerabdrucks werden viele Routen erstellt, die gleichzeitig verwendet werden können. Tore an den Ein- und Ausgängen zu jeder der Routen, deren Fußweg etwa 20 Minuten dauern würden, zeigen an, ob eine Route belegt ist.
Fazit: Wohnkonzepte überdenken
Die Corona-Krise zeigt, dass es differenzierte Wohnkonzepte für eine immer individueller werdende Gesellschaft braucht. Die Krise macht aber auch deutlich, wie wichtig die Qualität von Wohnungsgrundrissen und Freiräumen ist – vor allem in Bezug auf bezahlbaren Wohnraum.
Energieeffizienz sowie autarke Wohnquartiere, die auch den Anforderungen von Krisensituationen standhalten, können sinnvolle Wohnkonzepte für die Zukunft sein.
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