Wo ist der dritte Ort geblieben?
18.08.2021
Architektur
18.08.2021
Architektur
Anfang des Jahres zog ein Video mit dem Titel Manifest des Dritten Ortes um die Online-Häuser. Es klang poetisch und setzte sich als Ziel, den dritten Ort als Sehnsuchtsort zu thematisieren. Der dritte Ort – was ist mit ihm während der Pandemie geschehen?
Dritte Orte als erste zu schließen und als letzte wieder zu öffnen, hat Sinn gemacht. Trotzdem dürfen wir voller Bedauern feststellen, dass uns die liebgewonnenen dritten Orte schmerzlich fehlen. Denn es geht nicht nur um das Vergnügen, das Abfeiern, die Eventgier, die wir mit dritten Orten verbinden. Es geht um Sinneseindrücke, die wichtig sind für die Seelenhygiene und – um es mit etwas Drama zu artikulieren – ums Überleben.
Der dritte Ort darf uns ganz stark fehlen. Weil er ein zweites Wohnzimmer ist. Dort trifft man seine Wunschfamilie, man begegnet Neuem, das uns inspiriert, für die persönliche Entwicklung und für die Arbeit. Ein dritter Ort ermöglicht Sinneseindrücke, die der Mensch zum Leben braucht, wie Sauerstoff, wie Wasser, wie Liebe.
Die Pandemie hat den dritten Ort temporär obsolet gemacht – was konnten Sie beobachten? Welche Auswirkungen hatte dieser ‚Wegfall‘ auf den Menschen und für den Ort? Und welchen Impact werden wir sehen, wenn die Pandemie Geschichte ist?
Christian Mikunda, Begründer der strategischen Dramaturgie, Stadtforscher und Dritter Ort – Experte, ist überzeugt: „Meine Theorie ist: Ich glaube, dass die ganze Experience Economy nicht da ist wegen der Marketingrelevanz, sondern weil die Evolution sieht, dass unsere Sinne ständig bespielt und massiert werden müssen. Von Schwerkraftempfindungen, vom Sehen, vom Hören, von der Berührung eines Menschen. Nicht nur, damit wir uns weiterentwickeln können… damit wir überleben! Wenn die dritten Orte und das, was sie darstellen und was sie ermöglichen wegfallen, wird man wahnsinnig. Dann entsteht eine unglaubliche Angst. Der Wegfall von Sinnesempfindungen führt dazu, dass Angst entsteht.“
Hat die Pandemie den dritten Ort temporär obsolet gemacht? Mikunda schmunzelt und sagt: „Ich kann mich erinnern – als man nur hinausgehen durfte, um sich die Beine zu vertreten – da kam mir jemand entgegen und sagte: „Wahnsinn, oder? Wie in einem Science Fiction Film nach einem Atomunfall. Mit einem Abstand von 10m sind wir dagestanden und haben uns die Leere auf der Strasse angeschaut.
Ich konnte aber auch beobachten, dass die Menschen recht schnell nach Lücken gesucht haben. Es heißt ja, das Leben setzt sich immer durch. Das ist ein Zitat aus Juressic Park, glaub ich (lacht). Aber die Menschen haben auch nach emotionalen Lücken gesucht. Sie kamen mit leuchtenden Augen aus Lebensmittelmärkten, weil es dort auch Kinderspielzeug gab. Als der Lockdown vorbei war, ist die Schaufensterkultur merkbar besser geworden. Die UnternehmerInnen mussten die Angel visuell noch stärker nach den Leuten auswerfen.“
Wie haben die Leute versucht, den Wegfall der gewohnten dritten Orte zu kompensieren? Mikunda antwortet: „Die Leute haben versucht, den Wegfall der gewohnten dritten Orte zu kompensieren. Als es kleine Öffnungen gegeben hat: Peter Friese vom Schwarzen Kameel in Wien hat Food Trucks durch die Wiener Innenstadt geschickt, wo man Champagner und Leberkäse abholen konnte. Das war großartig, ein Highlight für die Menschen.“
Ich habe Edgar Eller, Vizepräsident Stadtmarketing Austria und Unternehmensberater für den Bereich atmosphärische Stadtraumgestaltung, Marken- und Regionalentwicklung gefragt, was der dritte Ort für ihn bedeutet: „In Vorarlberg gibt es eine transdisziplinäre Arbeitsgruppe, geleitet von der Landesabteilung ‚Büro für freiwilliges Engagement und Beteiligung‘, in der ich Mitglied bin. Wir setzen uns seit rund drei Jahren mit der Frage des gemeinsamen Lebensraumes auseinander. In Vorarlberg, einem Bundesland, in dem die Grenzen von Stadt und Land, von Urbanem und Ländlichen mehr und mehr verschwimmen.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse in diesem Themenfeld war, dass es eben diese Orte der Begegnung und des Zufalls benötigt. Und dass diese gestaltet werden können. Wir nennen das Projekt ‚LandStadt Vorarlberg‘“.
Edgar Eller erklärt: „Als Ray Oldenburg Ende der 80er den Begriff der „Third Places“ prägte, steckte das Internet noch in den Kinderschuhen. Das heißt, die Welt war viel stärker als heute in abgegrenzte Orte aufgeteilt. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes war nur in wenigen Berufsgruppen (Schriftstellern, etc.) komplett möglich.
Heute ist diese Grenze nicht mehr per se gegeben. Wir können sie ziehen, dann ist es jedoch eine bewusste Entscheidung. Der soziale Aspekt der ursprünglichen dritten Orte verschwimmt und verliert, wie die Trennung in die oben genannten Kategorien, seine klare Definition. Für lebendige Orte ist es nötig, soziale Treffpunkte des Zufalls zu haben. Denn dort entsteht Austausch und damit Neues.
Neue Dritte Orte müssen also so gestaltet werden, dass zweckfreie Begegnungen möglich sind. Flexibel gestaltbar und ohne Agenda. Wie zuhause, nur eben woanders.“
Christian Mikunda ist überzeugt, dass der erste, zweite und dritte Ort immer mehr miteinander verschmilzt: „Leute wie wir haben immer im Home Office gearbeitet. Die Wohnung wird immer mehr zum Ort der Repräsentation. Die Büros werden immer mehr zum ersten Ort. In großen Konzernen, wie Microsoft und Apple rutschen die MitarbeiterInnen von Stockwerk zu Stockwerk und man inszeniert die vertikalen Wände und Gärten dieser Büros. Nun ist es so, dass die klassischen dritten Orte, wie die italienische Piazza und die neuen dritten Orte, wie der Flagshipstore oder die innerstädtische Designmall Arbeitsorte oder persönliche dritte Orte geworden sind. Wie es die Enzis im MQ darstellen. Manche leben da sprichwörtlich drauf. Ich habe mehr als einmal gesehen, dass Leute auf Enzis zeigen und sagen: „Sie können da kurz mal sitzen, aber der blaue da, das ist eigentlich meiner.“
„Coworking ist wie eine Vermischung von erstem, zweitem und drittem Ort“, sagt Christian Mikunda, beschreibt aber auch ein Problem: „Third Places haben a priori eine entspannende entlastende Wirkung. Je mehr Arbeit drinnen steckt, je mehr second place drinnen steckt, desto mehr wird ihm die entlastende Wirkung genommen. In Deinem Stammbeisl hast Du das Problem nicht.“
Edgar Eller meint: „Coworking Spaces können als dritte Orte funktionieren, wenn sie Spontanität erlauben. Ein Leerstand im Zentrum wird zum Coworking Space inkl. öffentlicher Sitz- und Lese-Ecke – wunderbar. Die Arbeitsplätze müssen eben so gestaltet werden, dass intime Besprechungen und Telefonate ebenso möglich sind wie der Austausch mit jenen, die zufällig da sind. Die Pandemie ließ den öffentlichen Raum zeitweise als Gefahr wirken. Er durfte nur zweckgebunden für Querungen aufgesucht werden. Eine Gefahr für die Demokratie, wäre das ein Dauerzustand.“
„Heute werden dritte Orte mit hypnotischen Merkmalen aufgeladen“, fährt Mikunda fort. „Wie es Regisseur Romeo Castellucci bei den diesjährigen Salzburger Festspielen tat. Man darf nicht fragen, warum im Don Giovanni ein Ziegenbock von links nach rechts über die Bühne läuft.“ Diese Frage sei falsch, sagt er und lacht.
Genau wie diese: „Warum trägt ein weißer Tiger im Schaufenster einen Stoß Jeans am Rücken? Die Antwort lautet: Damit wir hinschauen! Und weil es unser Unterbewusstsein anspricht.
Durch diese gedankliche Herangehensweise sind hypnoästhetische urbane Designinszenierungen in London am Trafalgar Square entstanden. Oder Graffiti und Street Art Design weltweit – kuratierte Meisterwerke am Donaukanal in Wien, in Linz beim Alten Hafen, in Miami in Wynwood, in London in Shoreditch. Das entsteht nicht zufällig. Das ist Teil eines Masterplans.
Wien hatte einen Masterplan mit der Ringstrasse und heute möchte jeder Architekt auf der Achse, die beim Karlsplatz beginnt und raus geht nach Norden, etwas bauen. Städte müssen gemacht werden; Die brauchen einen starken Bürgermeister und an seiner Seite einen starken Stadtmarketingverantwortlichen oder jemanden, der die Stadtdramaturgie übernimmt und dritte Orte bestimmt.“
Christian Mikunda antwortet auf die Frage, wo sich sein Lieblings-Dritter Ort befindet, wie aus der Pistole geschossen: „Mein Lieblingsort ist in Seoul, Südkorea. Da sind 10.000 weiße LED-Rosen, die untertags von der Sonne Energie bekommen. In der Mitte steht ein Designmuseum und Konferenzzentrum, rundherum abertausende von Autos und Bussen. Alles ist laut und unangenehm. Sobald aber die LED Rosen angehen, wird alles, was negativ ist, komplett weggeräumt. Man hört die Autos und Busse nicht mehr, die Liebespaare küssen sich dort, die Touristen strömen hin, es ist wie ein Amphitheater, von dem man auf die Rosen sehen kann. Es ist ein unglaublich poetischer Ort.“
Weitere Lieblingsorte von Mikunda sind das Prater Glacis im Wiener Prater, „weil es dort wie in Las Vegas einen unglaublichen Blick auf den Prater gibt, wenn abends die Lichter angehen.“
Faszinierend findet er als dritten Ort auch die Route 66 entlang der B66, die vor einem Monat im steirischen Vulkanland eröffnet wurde. „Es gibt über 30 ‚Brandlands‘, 5 davon sind Weltklasse“, schwärmt Mikunda und erzählt begeistert von Andreas Stern, den er den besten Floristen der Welt nennt. Stern entwarf künstlerische ‚Lebenslustzeichen‘ in Form von Ortstafeln entlang der Route 66, die auf die Besonderheiten der Region hinweisen.
Andreas Stern – in Feldbach ansässig – kreiert für Kaufhäuser, Fassaden, Schlösser und Hotels in aller Welt Inszenierungen, mal aus Blumen und Pflanzen, mal aus Alltagsobjekten. Im Modehaus Roth in Feldbach hat er eine Kleiderbügel-Inszenierung geschaffen, „die man sonst nur in New York findet.“
Bertram Meusburger, Fachexperte im Büro für freiwilliges Engagement und Beteiligung nennt zwei Lieblings-Dritte-Orte, die ihn beeindruckt haben: „Das Wort Lustenau, das bewusst mit Wort und Ort spielt. Der Ort ist eine alte Druckerei, in der sich alles um das Wort dreht. Was mit diesem dritten Ort erreicht wurde, ist eine Fülle an Ideen und Projekten, die im Austausch mit unterschiedlichen Gruppen an Menschen entstehen. Die sprechen ‚Randgruppen‘ an, die normalerweise nicht gewöhnt sind, sich in einer ungewohnten Umgebung auszutauschen.
Das andere Konzept ist der Vogelfreiraum Rankweil – von freiwilligem Engagement geleitet, von einigen engagierten Idealisten, die den Anspruch haben, diesen Ort zu bespielen, die den Rahmen setzen, den Inhalt aber nicht bestimmen. Die, die hingehen, bestimmen, was der Inhalt ist. Mal Repair cafe, mal Vortragsort, mal Konzertlocation.“
Carolin Frei, Geschäftsführerin der Erlebnis Rankweil Gemeindemarketing GmbH stimmt zu: „Der Kulturverein hat sich in einer Leerfläche gefunden. Es ist so viel entstanden. Seit der Pandemie ist alles ins Stocken geraten, weil die Energie plötzlich einfror.“
Mikunda ist überzeugt, dass wir in einer Storytelling Phase sind, wo nicht mehr die Frage im Zentrum steht: Was soll das bedeuten, sondern wo es um die Magie des Augenblicks geht. Um einen Claim und USP einer Stadt oder Region zu ermitteln, empfiehlt er, eine Brainscript Analyse zu machen.
Worin sich alle ExpertInnen einig sind: Der dritte Ort von damals wurde bis ins Jahr 2021 stärker professionalisiert; mehr hochwertige Architektur, mehr hochwertiges Design, so wie sich die Architektur und die Dramaturgie insgesamt weiterentwickelt haben. Auch Shopping Malls sind Teil dieser Evolution, das betrifft die Schaufenster und den Handel generell. Es ist eine Entwicklung, die die gesamte Experience Economy betrifft und somit das Stadtmarketing und Urban Design.
Hinter all diesen Entwicklungen steckt die Evolution der Welt. Die sei nicht durch einzelne Menschen, sondern durch die Gesellschaft und Phänomene unserer Zeit beeinflusst, sagt Mikunda. Von Zeit zu Zeit gäbe es Gamechanger, die den Lauf der Zeit verändern. Stanley Kubrick habe den Film verändert. Leonardo da Vinci habe praktisch alles verändert. Aristoteles hätte überhaupt den Weitblick gehabt. Aber in Wirklichkeit werden wir von der Evolution ‚bespielt‘. Er sagt: „Sie können die Codes der Gartengestaltung, die wir aus den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts kennen, im heutigen Verpackungsdesign in Supermärkten sehen.“
Das sei das Geheimnis der gestalteten Welt, wie diese Codes weitergegeben werden. Und wie das von einem Medium zum anderen Medium springe. Die Landschaftsmaler hätten das gemacht, was die Gartengestalter taten. Dadurch entstand die Idee, dass ein Bild schön sein kann. Die Natur war den Leuten davor komplett egal. „Ein Wegerl, das auf einen Berg hinaufgeht, wo am Ende eine Kapelle und ein einzelner Baum steht, wo wir heute vor Rührung weinen, war den Leuten bis zum Jahr 1887 komplett wurscht“, erzählt Mikunda.
Und führt aus: „Wir vergessen, die Welt muss gemacht werden, die kommt nicht von selbst. Wenn ich oft höre: ‚Die beste Inszenierung ist die Natur‘, antworte ich: „Ja, aber die Natur wurden von Landschaftsmalern entdeckt, von Hunderten und Aberhunderten. Bis zum Motiv des röhrenden Hirschen, der ab den 50er Jahren in Wohnzimmern hing. Ohne den würde es heute keine romantic comedies auf Netflix geben.“
Ich befrage Bertram Meusburger nach messbaren Ergebnissen von Dritte Orte-Initiativen. Meusburger antwortet: „Der Raum ist wichtig, das ist ein materielles Argument, ein ‚hard fact‘ – aber der ist austauschbar. Die ’soft facts‘, also die Haltung, die Initiativen entgegengebracht wird, die Netzwerke, die sich bilden, die Konzepte, die Innovatives hervorbringen und fördern, das ist entscheidend!“
Er nennt die Gruppe Otelo: „Die gehen so mit harten Fakten um: Sie brauchen nur ein Leerstandsobjekt, eine Gemeinde, die per Gemeindebeschluss zusagt, dass der Leerstand benutzt werden kann und kostenfreien Zugang. Dann bespielen sie diesen Ort auf eine Art, dass er zur Belebung der Region beiträgt. Sie versprechen nicht mehr und nicht weniger. Da sind Menschen dahinter, die ländliche Regionen mit interessanten Orten befüllen. Ich habe das selber erlebt, in Vöcklabruck – das ist mir in Erinnerung geblieben.“
Für die Entwicklung eines innovativen, zukunftsfähigen Lebensraumes braucht es Labore der Zukunft, sogenannte Experimentierräume. Räume, in denen Dinge gemeinsam ausprobiert werden können und sich Identifikation mit Attraktivität verbindet. Das sind Orte, wo (Alltags-)Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen über Altersgrenzen hinweg ausgetauscht und geteilt werden und Kooperation geübt wird. Dann sind sie Nährboden für Innovation und Gemeinschaft. Oft sind dritte Orte an Übergangsbereichen von alt und neu (Leerstände) oder an der Schnittstelle von ländlichem oder urbanen Selbstverständnis (Co-Working Spaces in Dörfern).
Dritte Orte sind also soziokulturelle Experimentier- und Begegnungsräume zur Entwicklung von Urbanität in der LandStadt.
Dritte Orte in Vorarlberg: Haben Sie eine Idee? Dann reichen Sie diese bis 5. September hier ein: https://www.landstadt-vorarlberg.at/experimentierraeume-in-der-landstadt-1-1/ideenkanal
Warum sich bereits mehr als achtzig Standorte in Österreich als Mitglieder beim Dachverband Stadtmarketing Austria austauschen?
Weil wir gezeigt haben, dass „Miteinander“ mehr bringt. Im Miteinander machen Sie für Ihren Standort das Mögliche zum Machbaren. Wir unterstützen Sie dabei mit Know-how, das sich in der Praxis bewährt hat, mit Weiterbildung, die neue Perspektiven eröffnet sowie mit Erfahrungsaustausch, der Sie in Ihrer Rolle stärkt.
Formen Sie aktiv die Zukunft des Stadtmarketings!
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