Weihnachten ohne Lieder?

18.12.2018
Gesellschaft

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…Oder warum es nur noch wenige „Schutzräume“ für gemeinschaftliches Singen gibt

„Ein Weihnachten ohne Lieder kann ich mir nicht vorstellen. Weihnachten ist voller Musik“, sagte jener Mann, der einst tausende zum gemeinschaftlichen Singen brachte: Gotthilf Fischer.[1]

Mal ganz ehrlich, singen Sie mit Ihren Kindern, mit den Enkeln, Eltern, Großeltern und wer sonst noch am familiären Weihnachtsfest teilnimmt, gemeinsam Weihnachtslieder? Und was für Musik beschallt sonst die privaten Räume in der Advents- und Weihnachtszeit? Wohl kaum noch weihnachtliche Musik!

Das gilt staunenswerter Weise auch für den kirchlichen Raum. Schaut man sich die saisonalen Programme quer durch den deutschsprachigen Raum an, dann gibt es zwar regionale und konfessionelle Unterschiede, jedoch ist zu beobachten, dass immer mehr zwar publikumswirksame, aber weihnachtsfremde Musik ertönt.

Singen hat nicht mehr die primäre Aufgabe eine adäquate, besinnliche Stimmung durch traditionelles Liedgut und Texte zu vermitteln. Erläutert wird das u.a. damit, dass die Musik generell als „Sympathieträger für die Kirche“ fungiert und darüber hinaus in die allgemeine kulturelle Arbeit wirke.[2]

Aber Weihnachten ist nicht allgemeine kulturelle Arbeit und die geweihte Nacht sollte vielmehr „Sympathieträger für die Geburt Christis“ sein.

 

„Singen ist das Fundament zu allen Dingen“

Georg Lichtensteger (1700–1781): Georg Philipp Telemann, um 1745. Quelle: Wikipedia
Georg Lichtensteger (1700–1781): Georg Philipp Telemann, um 1745. Quelle: Wikipedia

„Singen“ – so wird der Barockkomponist Georg Philipp Telemann Mitte des 18. Jahrhunderts zitiert „ist das Fundament zu allen Dingen.“ Telemann sollte es gewusst haben, er war Musikdirektor von Hamburgs fünf Hauptkirchen und Kantor am Johanneum. Er machte die norddeutsche Hansestadt mit seinem enorm produktiven Sakralwerk zur damaligen „Hauptstadt“ der Kirchenmusik.

Diese Maxime gilt auch heute höchstens noch in Skandinavien und dem Baltikum. Doch mit dieser Tradition wurde in Norddeutschland schnell gebrochen. Gleiches gilt auch für andere Städte, Regionen und Länder im Süden. Das hat gleich mehrere Ursachen, glaubt man jenen Fachleuten, die sich tagtäglich mit dem Thema dieses Beitrags befassen.

Sternsinger Quelle: Clker-Free-Vector-Images (CC0 Creative Commons)
Sternsinger Quelle: Clker-Free-Vector-Images (CC0 Creative Commons)

Erstens singt kaum noch jemand in den Familien, weder zu Hausabenden, noch Sternsinger vor der Haustür, oder zu den Festen – und wenn, dann zumeist anglizierte Lieder wie zu Weihnachten „Jingle Bells“ und zu Geburtstagen „Happy Birthday“.

Dem Leiter eines bedeutsamen Niederösterreichischen Chores bereitet jedoch weitaus mehr Sorgen, nämlich dass es kaum noch singenden Nachwuchs gibt und ergänzt: „Wir haben kaum noch gute GesangsstudentInnen aus dem eigenen Land, weil hier niemand mit den Kindern singt.“

Eltern um die dreißig würden mit ihren Sprösslingen nicht singen, sagt auch Sheila McCraith[3], dabei sei das pädagogisch mehr als wert- und sinnvoll.

„Beim Singen hören Kinder zu“, fügt die vierfache Mutter und Bloggerin hinzu.

Und zweitens trifft die enorme Stellenreduktion und Sparzwänge von haupt- und nebenamtlichen Kirchenmusikern in besonderem Maße die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Chöre mussten aufgelöst werden oder dümpeln in der Bedeutungslosigkeit dahin.

Und welche Eltern fahren oder schicken ihre Kinder nach einer gestressten Woche gerne sonntags morgens in die Kirche? Obwohl Politiker mittlerweile wissen, wie wichtig die Kirchenmusik für die Erziehung (neben Familie und Schule) ist, käme eine staatliche Förderung nur selten in Frage.

Elisabeth Bengtson-Opitz, schwedische Opernsängerin, Erfinderin des gesangspädagogisches Konzepts „Anti-Aging für die Stimme“ und ehemalige Professorin an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater rügt die kirchliche Aufführungspraxis und kritisiert insbesondere die Zurückhaltung gegenüber modernen und zeitgenössischen Komponisten wie Pärt, Strawinski, Martin oder Messiaen.

Sie kritisiert andererseits und gleichzeitig vornehmlich zeitgenössische Komponisten und deren bedauerliche Unkenntnis von Gesangsgesetzen: „Sie sind oft stimmliche und textliche Versager.“

Die Spekulation, mit U-Musik wie eingängigen Gospels junge Menschen in die weihnachtlich geschmückte Kirche zu locken, „Jesus Christ Superstar“ anzubieten oder E-Gitarre und Keyboard statt der Orgel einzusetzen, sei mehr als fragwürdig. Ob am Ende Lloyd-Webber oder Bach gewinnt, das wird die Musikgeschichte entscheiden.

 

 

Die ganze Situation werde auch schon gar nicht besser, nur weil in einer Late Night-Talkshow regelmäßig ein hanseatischer Männerchor auftreten dürfe, der kurze Fragmente aus Shanty-Hymnen und Gassenhauern schmettert[4], sich also lediglich als aparter Lückenfüller fühlen darf. Das sei weniger als albern.

 

Kinder wollen Qualität

Chorkonzert im Dom von Reykjavik. Quelle: Pixabay (CC0 Creative Commons)
Chorkonzert im Dom von Reykjavik. Quelle: Pixabay (CC0 Creative Commons)

„Kinder wollen Qualität“, sagt eine Kirchenmusikerin, die ungenannt bleiben möchte aus ihrer Chorarbeit-Erfahrung. „Die Kinder in meinem Chor sprechen vom ihrem Schulchor als Billigchor, sie sind neugierig auf das Weihnachtsoratorium oder die Johannispassion.

Voraussetzung allerdings: mit Begeisterung konsequent und dauerhaft motivieren.“ Nicht zuletzt sei „Kirchenmusik die Verkündigung von Gottes Wort und den biblischen Geschichten mit den Mitteln der Musik.“ Authentizität und Begeisterung für das vermittelte Werk seien entscheidend.

Das sei außerdem nach wie vor zeitgenössisch und käme bei Kindern gut an, weil sie spüren, dass die Wertecodizes nach wie vor Bestand hätten und das sei schließlich und endlich auch bedeutsam für die gesamte abendländische Kultur.

Leider fällt gerade der musikalische Schulunterricht sehr oft aus, in manchen weiterführenden Schulen sogar an die 80%. Also wo sollen Kinder überhaupt noch Weihnachtslieder lernen, da bleibt eigentlich nur noch der Kindergarten und die Familie.

 

Singen ist gesund und hip

Düstere Aussichten sehen allerdings nicht alle und verweisen beispielsweise auf die SYHO-Studie[5] aus Großbritannien aus dem Jahr 2017. Sie belegt etwas, was wir schon lange zu wissen glaubten, nämlich dass gemeinschaftliches Singen ohne Erfolgsdruck glücklich macht – und das nicht nur an den Feiertagen wie Weihnachten.

„Wer singt, lebt gesünder“, ist Wolfram Seidner überzeugt, emeritierter Professor an der Klinik für Phoniatrie und Audiologie der Charité in Berlin. Jahrzehntelang hat sich der Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten und ausgebildeter Sänger, um Hör-, Sprach-, Stimm- und Schluckstörungen gekümmert. Er hat Solisten der Staatsoper und der Komischen Oper beraten, und berühmte Sänger wie Peter Schreyer und Theo Adam.

Ob Profi oder Laie, Sänger müssen, sagt Wolfram Seidner, auf die Signale ihres Körpers achten. Zu viel Alkohol, fettes Essen und zu wenig Schlaf schaden der Stimme. Wer aber viel singt, tut aktiv etwas für seine Gesundheit. Er schützt sich vor Erkältungen und stärkt sein Immunsystem, entdeckten kürzlich Wissenschaftler vom Institut für Musikpädagogik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main.“[6]

Das weiß man auch in Österreich: „Singen kann das Immunsystem stärken, das ‚Kuschelhormon‘ aktivieren, kognitive Fähigkeiten verbessern und die Genesung fördern. Das nutzen auch Ärzte in ‚Singenden Krankenhäusern‘. In Wien wurde bereits im Jahr 2014 die erste ‚Singende Praxis‘ eröffnet.[7] Außerdem hilft Singen gegen Depressionen und ist längst als therapeutisches Medium anerkannt.

Und eine deutsche Wochenzeitschrift erklärt sogar, warum gemeinsames Singen wieder „hip“ sei[8], ungeachtet der Generation. „Im Chor ist man ein Team – wie beim Fußball“, erläutert der Protagonist des Artikels. Der Vergleich stimmt insofern, da die letzten beiden großen Schutzräume für gemeinschaftliches Singen die Fußballstadien und die Kirchenräume sind.

 

Singen im Chor

Durch attraktive Chorprogramme können Jugendliche ebenfalls motiviert werden ihre Stimme gesanglich zu gebrauchen.

Der steierische Chorverband, Dachverband aller Chöre im Bundesland, bietet neben Familiensingtagen – die übrigens schnell ausgebucht sind – auch Weiterbildung für Chorleiter an und das sehr professionell, gemeinsam mit der Kunstuniversität in Graz.

Masterclasses für fortgeschrittene Sänger gehören ebenso ins Jahresprogramm wie die Teilnahme an internationalen Chorwettbewerben und Festivals.

 

 

Überhaupt ist zu erwähnen, dass Chorwettbewerbe und -festivals nicht nur lediglich als solche im europäischen Kontext zugenommen haben, sondern auch die Beteiligung daran.

Der internationale Vergleich[9] spielt einerseits im semi- und professionellen Bereich eine Rolle, aber andererseits auch im Laienbereich, denn die Attraktion liegt im Austausch und der Verbindung von Reise, Singen, Kennenlernen, Entdecken und Kommunizieren. Allein in Österreich wurden 2017 ungefähr 1.000 Gastchöre empfangen und 1.500 Konzertreisen durchgeführt.

Der Dachverband aller Chor- und Sängerbünde, der Chorverband Österreich (ChVÖ), betont mit seinen verschiedenen Aktionen und Aktivitäten zu einem eminent wichtigen Wirtschafts- und Kulturfaktor geworden zu sein.

 

Aus der Statistik der Chöre im ChVÖ ergibt sich folgendes Bild:

  • 100.000 Sänger: 38,6% Sänger, 43% Sängerinnen, 18,4% singende Kinder und Jugendliche
  • 3.500 Chöre: 40% gemischte Chöre, 20% Männerchöre, 4% Frauenchöre, 14% Kinder- und Jugendchöre, 22% Kirchenchöre

Diese Mitglieder sorgen mit ihren Aktivitäten in der Alpenrepublik pro Jahr für etwa 13.000 Konzerte und Mitwirkungen an Konzerten, 20.000 Messen und Gottesdienste, 90.000 Chorproben, 11.000 gesellschaftliche Veranstaltungen, wie Ausflüge, Feiern, etc. sowie 500 Rundfunk- und Fernsehaufnahmen, Produktionen von Tonträger und erfreuen im Land über drei Millionen Zuhörer.[10]

 

Das lässt sich generell positiv interpretieren. Allerdings wird die Diskrepanz zwischen 43% Sängerinnen zu 38,6% Sängern besonders deutlich, wenn man sie in direktem Vergleich zu 20% Männerchören und nur 4% (!) Frauenchören setzt.

Geradezu förderlich scheint die neue Entwicklung bei jungen Mädchen und Frauen zu sein, denn liest man die jüngst in Stuttgart veröffentlichte, sogenannt „JIM-Studie 2018“[11], kommt man zum Ergebnis: immer mehr Jugendliche und darunter immer mehr Mädchen machen Musik und nicht nur deswegen, weil sie berühmt werden wollen.[12]

 

Zunehmende Beliebtheit

Musik machen ist danach eine der wenigen Freizeitaktivitäten Jugendlicher zwischen 12 und 19 Jahren, die im Vergleich der letzten zehn Jahre (2008–2018) an Beliebtheit zugenommen hat (+4%). Damit rangiert die Zuwachszahl auf Platz 2 hinter allgemeinen Unternehmungen mit der Familie (+16%).

Daniel Knöll, Geschäftsführer der SOMM – Society Of Music Merchants e.V.[13] beschreibt und filtert die Studie folglich: „Jeder fünfte Jugendliche hat mindestens mehrmals pro Woche Musikunterricht, Chor- oder Bandprobe. Damit liegt das Musizieren an vierter Stelle bei den beliebtesten non-medialen Freizeitaktivitäten – noch vor dem Besuch von Sportveranstaltungen (13%). Das Musizieren ist bei Mädchen (27%) deutlich beliebter als bei Jungen (18%).

Darüber hinaus ergab die Studie, dass Jugendliche mit niedrigerem Bildungshintergrund musikalisch weniger aktiv sind als Gymnasiasten. Auch zeigt sich, dass das Alter eine Rolle spielt. Die jüngeren Befragten machen öfter Musik.

Trotz zunehmender multimedialer Freizeitgestaltungen haben sich die Präferenzen der 12- bis 19-jährigen bei den non-medialen Beschäftigungen in der letzten Dekade wenig verschoben. So liegt das persönliche Treffen von Freunden mit 71 Prozent fortwährend an erster Stelle. Auf dem zweiten Platz rangiert der Sport (69%). Drittplatziert positionieren sich Familienunternehmungen (38%).

 

Kinder beim Singen in der Kirche. Foto: Gemma Ray, UK Quelöle:Pixabay (CC0 Creative Commons)
Kinder beim Singen in der Kirche. Foto: Gemma Ray, UK Quelöle:Pixabay (CC0 Creative Commons)

 

Ob diese Entwicklungen und sich das gesellschaftliche Bewusstsein auch dahingegen sortiert, dass an Weihnachten auch Lieder gesungen werden, bleibt abzuwarten.

 

Vergleiche:

[1] Einer der Höhepunkte der Laufbahn von Gotthilf Fischer war der Auftritt der Fischer-Chöre mit weit über 1.000 Sänger beim Abschluss der Fußball-Weltmeisterschaft 1974.
[2] Vgl.: Zitat des Landesmusikkirchendirektors der Nordkirche, Hans-Jürgen Wulf.
[3] Vgl.: Sheila McCraith: Erziehen ohne auszurasten, Trias Verlag, Stuttgart, 2017
[4] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/inas_nacht/index.html
[5] Vgl.: Grundlage der Studie bildet das in der Grafschaft Norfolk angesiedelte Projekt „Sing Your Heart Out“ (SYHO). Ursprünglich 2005 in einem psychiatrischen Krankenhaus ins Leben gerufen, ist das Projekt mittlerweile auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich.
So besuchen mittlerweile rund 120 Personen in Norfolk vier kostenfreie, wöchentlich stattfindende Sing-Workshops. Etwa ein Drittel der Teilnehmer hatte schon einmal psychische Probleme. Der Hauptunterschied von ‚Sing Your Heart Out‘ zu einem Chor ist, dass jeder daran teilnehmen kann, unabhängig von seinen Fähigkeiten.

[6] Vgl.: https://www.welt.de/wissenschaft/article1461487/Warum-Singen-gesund-ist.html
[7] Vergleiche: https://diepresse.com/home/leben/gesundheit/1550609/Singen-ist-oft-der-erste-Schritt-zur-Heilung
[8] Vgl.: https://www.stern.de/kultur/musik/warum-im-chor-singen-wieder-hip-ist-7310414.html
[9] https://www.interkultur.com/de/weltrangliste/
[10] Vgl.: https://www.chorverband.at/chorverband
[11] Quelle: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2018/Studie/JIM_2018_Gesamt.pdf
[12] Im Rahmen der JIM-Studie 2018 wurden 1.200 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren befragt.
[13] Quelle: https://www.somm.eu/somm-public-relations-pressemitteilungen/somm-public-relations-pressemitteilung/news/jim-studie-2018-immer-mehr-jugendliche-machen-musik/hash/2087cbe601bae3862ad54c6e8055fdcf/

 

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein glückliches, erfolgreiches Jahr 2019 und starten am Dienstag, den 8. Jänner 2019 wieder mit neuen Beiträgen!

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