Lebendige Stadtzentren durch Urbane Produktion
20.07.2021
Wirtschaft
20.07.2021
Wirtschaft
Wenn sich der Konsum verändert, wandelt sich auch die Stadt. Immer mehr Menschen schauen auf Klimafreundlichkeit, Ressourcenschonung, Regionalität und Unverwechselbarkeit von Produkten und befeuern damit einen Trend, der die Antwort auf verwaiste Innenstädte sein könnte: Urbane Produktion.
Die Entwicklung fällt langsam auf, sogar in kleinen Städten. Da eröffnet ein Vintage-Möbel-Shop samt Werkstatt, dort eine kleine Kaffeerösterei. Die Stadtbauern am Markt verweisen stolz auf ihre lokal gewonnenen Lebensmittel, Naturkosmetik kommt längst nicht mehr von einer französischen Kette, sondern von der findigen Pflanzenkundlerin am Stadtrand.
„Shop local“ heißt nicht mehr nur, seine Siebensachen in der eigenen Stadt zu kaufen. Es schließt zunehmend auch den Aspekt mit ein, dass man die gekauften Waren vor Ort produziert. Und damit sind wir schon mitten im Thema der „Urbanen Produktion“.
Der entsprechende Wikipedia-Eintrag definiert dieses Phänomen so:
„Urbane Produktion, auch urban manufacturing, bezeichnet die Herstellung und Verarbeitung von materiellen Gütern sowie produktbegleitenden Dienstleistungen in Räumen mit einer funktionalen Dichte und einer Mischung unterschiedlicher Nutzungen in einer Stadt.“
Gemeinhin umfasst der Begriff Urbane Produktion drei Erscheinungsformen, und zwar:
Die Vorteile von Urbaner Produktion sind klar. Die Innenstädte werden mit neuem Leben gefüllt, Unternehmer finden Produktionsmöglichkeiten und Absatzmärkte vor Ort. Die Produkte entsprechen dem auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit setzenden Konsumtrend. Kurze Produktions-, Arbeits- und Einkaufswege sparen CO2.
Und da Viele ihr Leben und ihre Arbeit endlich ohne weite Pendlerstrecken unter einen Hut bringen wollen, verändern sich die Landschaften des innerstädtischen Wohn- und Arbeitsraums.
Stadtmarketingverantwortliche von Sankt Valentin Doris Haider meint “Das sogenannte „Aussterben der Innenstädte“ passiert fast überall. Die Innenstädte stehen schon seit längerem vor einem Ladensterben. Die Pandemie ist in dem Fall nur der Brandbeschleuniger. Wir müssen die Städte klimafester und klimasicherer machen und attraktiv halten. Es ist wichtig, dass eine Stadt gut organisiert ist und sich den Bedürfnissen der Menschen anpasst und nicht umgekehrt.
Vor der Industrialisierung arbeiteten die Menschen in der Regel dort, wo sie auch lebten. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es dann zur Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen, um die Bevölkerung vor den schmutzigen Fabriken und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken zu schützen.
Doch schon seit Jahrzehnten rücken Arbeitsplatz und Wohnort wieder zusammen, bedingt durch den Wandel von einer reinen Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft, emissionsärmeren Produktionsformen und der Rückkehr der urbanen Produktion. Leerstände kann man mit Manufakturen, Produktionsbetrieben oder auch Wohnraum neu füllen.“
Auch in der knapp 10.000-Einwohner-Stadt Sankt Valentin gibt’s Beispiele dafür – etwa Michaela Wurz mit ihrem Modeatelier Unikat, die sich mit ihren Modedesigns bereits bis nach Wien einen Namen gemacht hat. Als Stadtmarketingverantwortliche versucht Haider, solche Handwerksbetriebe bestmöglich zu unterstützen. Für die Sankt Valentin-Kampagne „Magdi in Valentin“ wurde etwa das Titelmodell modisch von der Designerin Wurz ausgestattet.
Aber wie funktioniert das, wenn man es strategisch angehen möchte? Wir fragen nach bei Kerstin Meyer vom Institut Arbeit und Technik der Westfälischen Hochschule. Sie koordiniert das seit 2015 laufende Forschungsprojekt „Urbane Produktion Ruhr“, das im Verbund mit den Urbanisten e.V. aus Dortmund, der Hochschule Bochum, der Bochum Wirtschaftsentwicklung und Stadt Gelsenkirchen umgesetzt wird.
Es soll Bewusstsein in der Bevölkerung für Urbane Produktion schaffen, Chancen auslosten, Förderungen ausloben, geeignete Räume definieren und die Eigentümer einbinden.
Meyer: „Das Ruhrgebiet war einem Strukturwandel unterworfen, in der Stadt wurden vorwiegend Büros gebaut, auf Dienstleistungsbereiche gesetzt, das produzierende Gewerbe wurde zunehmend verdrängt – auch weil Wohnraum eben höhere Renditen abwirft.
Im Rahmen des Projekts soll vor allem Aufmerksamkeit erzeugt werden für den produzierenden Bereich. Wir experimentieren aber auch mit Räumen und unterstützen Akteure.“ Außerdem hat man eine Wanderausstellung zum Thema Urbane Produktion konzipiert, die das Thema in die Köpfe der Stadtbewohner bringen soll.
Einer der besagten Experimentierräume ist die Lutherkirche im Bochumer Stadtteil Langendreer, die schon länger ungenutzt war und die man als Reallabor für urbane Produktion adaptiert hat. Der Name: LutherLAB. Meyer: „In Deutschland stehen viele Kirchenräume leer.
Anderswo werden Industriehallen zu Kulturstätten, wir versuchten hier, Produktion in einen Kirchenbau zu bringen. Also haben wir experimentiert und geschaut, was geht. In der Kirche hat man Lastenfahrräder gebaut, Nähkurse gegeben, Brotaufstriche hergestellt.“
In einem anderen Viertel Bochums hat man mit einem 50-Quadratmeter-Ladenlokal experimentiert, inwieweit das passt etwa für Siebdruckherstellung oder zum Bierbrauen. Wenn sich ein Ort als passend herausstellt und ein Produzent Interesse zeigt, erstattet man die Miete zumindest zum Teil und zahlt in der Startphase ein Unterstützungshonorar. Zudem gibt es Gründungsförderungen, die im Rahmen eines Wettbewerbs ausgelobt werden.
Industrie zurückzuholen in die Stadt kann, muss aber nicht funktionieren. Logistikwege, Betriebszeiten, Lärmentwicklung und Emissionen muss man berücksichtigen, nach dem Leitmotiv: Wo macht es Sinn? Wo hält man eine Fabrik besser fern?
Als gelungenes Beispiel nennt Meyer die Manner-Fabrik in Wien, die sich gegen eine Abwanderung aus dem 17. Bezirk entschied und auf eine vertikale urbane Produktion umstellte. Bedeutet: Jedes Stockwerk hat eine eigene Funktion. Beispielweise bereitet man im obersten Stockwerk die Cremes auf, darunter stehen die Öfen. Und noch weiter darunter wird in den Stockwerken verpackt und die Logistik abgewickelt.
Dabei bewegt man zwischen den Stockwerken keine Paletten, sondern nur die Produkte. Dies verkürzt Transport- und Laufwege, optimiert die Arbeitsabläufe und führt dadurch zu Effizienzgewinnen. So hat sich der Flächenverbrauch um rund 30 Prozent reduziert.
Ein weiteres Beispiel aus Wien zeigt, wie der Begriff „urbane Landwirtschaft“ zeitgemäß übersetzt werden kann. Austernpilz-Zuchten wachsen derzeit ja wie die sprichwörtlichen Schwammerln aus dem Boden, das Start-Up „Hut & Stiel“ macht daraus aber eine Vorzeige-Kreislaufwirtschaft im städtischen Raum.
Seit 2015 züchtet das Gründerduo Manuel Bornbaum und Florian Hofer Speisepilze auf Kaffeesatz – einer Ressource, die in einer Großstadt wie Wien beinahe unendlich verfügbar ist. „Anstatt im Restmüll zu landen, wird der Kaffeesatz von Wiener Kaffeehäusern, Restaurants, Großküchen und Büros abgeholt. In unserer Produktion wird er zu Pilzsubstrat weiterverarbeitet und als Nährboden für die Austernpilze verwendet“, erzählen sie.
Kurz nach der Ernte werden die Pilze an Restaurants und Kunden ausgeliefert, ab Hof und auf Märkten verkauft oder auch zu haltbaren Produkten in Gläsern wie Pesto, Aufstrich, Sugo oder Gulasch weiterverarbeitet.
„Die regionale Erzeugung und kurze Transportwege innerhalb Wiens bieten große Vorteile. Wir können unsere Produkte klimafreundlich zustellen und höchste Qualität und Frische der Pilze gewährleisten. Das Substrat wird, nachdem es in der Pilzzucht ausgedient hat, dem Boden als nährstoffreicher Dünger zurückgegeben.“
Für solche Produktionsprozesse braucht es ein breites Bewusstsein in der Bevölkerung. Ein solches zu fördern, war auch Kerninhalt des Forschungsprojekts „Urbane Produktion Ruhr“. Mittlerweile zeigen sich erste Früchte dieses Sensibilisierungsprozesses, etliche Initiativen haben sich im Dunstkreis dieses Forschungsprojekts formiert.
Vereine und Interessensgruppen zu den Themen Foodsharing, Siebdruck oder Brotbacken zum Beispiel. Ein Verein zur Förderung von solidarischer Landwirtschaft wurde gegründet, genauso wie ein Ernährungsrat für die Stadt Bochum.
Weitere Großstädte im deutschsprachigen Raum, die das Zukunftsthema Urbane Produktion bereits beackern, sind Wien und Zürich.
Während in Wien die Stadt selbst ein Fachkonzept „Produktive Stadt“ samt Flächensicherung und der Planung neuer Stadtquartiere erstellte, kam die Initiative „Made in Zürich“ beispielsweise von den Gewerbetreibenden selbst, die mit Öffentlichkeitsarbeit und einem jährlichen „Tag der urbanen Produktion“ auch Hinz und Kunz auf die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit des Themas einschwören.
Damit die Produktion ein Teil der Urbanität Zürichs bleibt, hat die Stadt die Industrie- und Gewerbezonen in der neusten Bau- und Zonenordnung bereits gesichert.
Es scheint, dass Urbane Produktion als Stadtentwicklungsthema nur große Städte am Radar haben. Allerdings: Viele kleine Städte praktizieren die Forcierung und Hege dieses Bereichs längst, wenn auch nicht so dezidiert.
Geförderte Pop-Up-Stores als Sprungbrett in die Selbstständigkeit sind ein möglicher Ansatz, der bereits weit verbreitet ist. Eine Initiative in Wolfsberg beispielsweise, die vom Land Kärnten, der Stadtgemeinde Wolfsberg und dem KWF ins Leben gerufen wurde, befindet sich bereits im vierten Durchgang. Sie brachte viele kleine, produzierende Gewerbe in die Innenstadt – etwa eine Goldschmiedewerkstätte, eine Babyaccessoires-Produktion oder eine Pasta-Manufaktur.
Sechs Monate lang wird den ausgewählten Bewerbern die Geschäftsmiete finanziert sowie ein Preisgeld ausgezahlt. Danach müssen sie auf eigenen Beinen stehen.
Ein anderer Zugang ist es, bestehende Handwerksbetriebe durch zusätzliche Zielgruppen und Absatzmärkte zu sichern. Im Waldviertel beispielsweise haben sich 16 Handwerksbetriebe aus den Kleinstädten und Dörfern der Region zur Gruppe „Handwerk & Manufaktur“ zusammengeschlossen und öffnen ihre Produktionen für Touristen und Interessierte im Rahmen geführter Touren oder Workshops.
Wie Urbane Produktion von den Verantwortungsträgern einer Stadt, ob groß oder klein, aktiv gefördert werden kann, hat das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) hinterfragt.
Dazu gehören die Sicherstellung baurechtlicher Voraussetzung und aktives Liegenschafts- und Flächenmanagement genauso wie finanzielle Unterstützung von Gründungen und Projekten oder Infokampagnen und Marketingmaßnahmen. Eine detaillierte Ausführung sämtlicher Möglichkeiten und Erfordernisse stellt dieses Difu-Paper zur Verfügung.
Urbane Produktion könnte also eine Antwort sein auf die Herausforderungen, vor der sich kleine und große Städte derzeit sehen, wie etwa: Abwanderung internationaler Ketten, Verlagerung etlicher Konsumbereiche ins Web, vermehrte Leerstände, verwaiste Innenstädte.
Mit der verstärkten Ansiedelung des produzierenden Gewerbes – von Manufakturen über Werkstätten bis hin zu zentrums-adäquaten Industriebetrieben – in Städten lässt sich nicht nur klimaschonender und lokaler wirtschaften, auch das in urbanen Räumen größere Angebot an qualifizierten Mitarbeitern und kürzere Wege sind Vorteile für die Betriebe.
Darüber hinaus sei die Ansiedelung in der Stadt auch eine Frage der Konsumentenorientierung, wie Wirtschaftsforscherin Christine Ax beim Forum Alpbach im August 2020 betonte. „In einer Zeit, in der man bewusster konsumiert, sind Qualität und Regionalität immer wichtigere Faktoren in der Kaufentscheidung. Gerade bei handwerklichen Betrieben, die ab Werkstatt wettbewerbsfähig sind, spielt Nachhaltigkeit eine große Rolle.“
Titelbild: Urbane Produktion (c) Andrew Neel on Unsplash
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