Die Übertourismus-Plage: Ursachen und Gegenstrategien
24.04.2024
Gesellschaft, Wirtschaft
24.04.2024
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Venedig, Barcelona, Dubrovnik, Salzburg, Hallstatt – das sind jene Orte, die oft in Verbindung mit dem sogenannten Übertourismus genannt werden. Was sind die Hintergründe für diesen Massentourismus und welche Maßnahmen können Tourismus-Hotspots treffen, um die negativen Auswirkungen zu mildern und die Lebensqualität sowohl für Besucher als auch für Einheimische zu erhalten?
Die Reisebranche konzentriert sich wie viele andere fast ausschließlich auf das Wachstum, wobei die Auswirkungen kaum oder gar nicht berücksichtigt werden. Hinter dieser Praxis stehen meist große Reiseveranstalter, die öffentliche Güter, für die sie weder Besitzrechte haben noch Entgelte entrichten, zu einem Produkt umfunktionieren und kommerziell verwerten.
Nach Jahrzehnten praktisch unkontrollierten Wachstums hat es eine Schwelle überschritten. Die Grenze der Belastbarkeit ist erreicht, vor allem, wenn Touristen nur für einen kurzen Zwischenstopp halt machen und zunehmend Drohnen einsetzen, die dann auch vor den Fenstern der Wohnhäuser schweben.
In vielen Destinationen verursacht der Tourismus nachweislich mehr Probleme als Vorteile. Aus Sicht der Einheimischen werden ‚zu viele‘ Touristen zu einem Störfaktor, der das tägliche Leben vor Ort belastet. Auch die Touristen selbst können andere Touristen als störend empfinden.
Bürgerinitiativen, Märsche auf den Straßen und Graffitis mit Aufschriften, wie „Tourist go home“ zählen noch zu den milderen Antworten der zunehmend verärgerten Bevölkerung. Schlimmer ist es, wenn Fremdenführer attackiert oder Autobusreifen von Reiseveranstaltern aufgestochen werden.
In einigen Fällen reagierten die lokalen Behörden mit einer Erhöhung von Gebühren und der Verweigerung der Erteilung von Genehmigungen für stärker auf Touristen ausgerichtete Unternehmen in den Innenstädten. In manchen Ländern werden sogar ganze Stadtteile für Besucher geschlossen.
Seit 2016 hat das Phänomen der Überfüllung von stark besuchten touristischen Destinationen offiziell einen Namen: Overtourism – auf Deutsch pragmatisch mit Übertourismus übersetzt. Das Wort entsteht aus einer Steigerung des Massentourismus hin zu einer Entwicklung, die das Entstehen von Konflikten zwischen Einheimischen und Besuchern an stark besuchten Zielen zum Gegenstand hat. Betroffen sind vorwiegend Städte , aber auch Nischendestinationen wie Nationalparks oder einzigartige Orte.
Mit dem Wort Tourismus verband man bis vor einigen Jahren Freizeit, Entspannung, Abenteuer, Unterhaltung und Genuss. Es hat vergessenen ländlichen Gemeinden Wohlstand gebracht, zerfallende historische Städte wiederhergestellt und sogar vom Aussterben bedrohte Tierarten konserviert.
Das Verhaltensmuster des Reisens hat sich jedoch über die Jahrzehnte verändert. Die günstigen Tarife der Billigfluggesellschaften ermöglichen Menschen reisefreudiger Nationen, kurze und zahlreiche Besuche pro Jahr zu tätigen. Reisen führen häufiger ins Ausland, sind kürzer, und besonders bei Fernreisen wollen Touristen so viele Destinationen wie möglich sehen.
Auch das Reiseverhalten der Österreicher hat sich seit den siebziger Jahren stark verändert. Herr und Frau Österreicher reisen viel öfter, dafür kürzer und häufiger mit dem Flugzeug.
Der Kreuzfahrttourismus wächst ebenfalls stark. Schiffsgrößen mit 2.000 und mehr Passagieren sind weit verbreitet und es kann vorkommen, dass mehrere dieser Schiffe gleichzeitig im selben Hafen liegen. Hafenstädte sind bei den Landausflügen angesichts der großen Zahl an plötzlich auftretenden Touristen oft überfordert.
Durch das Internetportal Airbnb werden Kapazitäten, die ursprünglich dem Wohnungsmarkt der Einheimischen dienten, für Zwecke des Tourismus (zweck-) entfremdet. Die Folge ist ein Anstieg der Mieten durch die höhere Nachfrage an Wohnraum, wodurch eine Verknappung entsteht.
In der heutigen Zeit sind soziale Medien, insbesondere Instagram, zu einem signifikanten Faktor in der Tourismusindustrie geworden. Die Plattform wird gezielt genutzt, um „instagrammable moments“ zu bewerben. Daraus hat sich ein neuer Massentourismus entwickelt. Teilweise werden Reiseziele sogar nach ihrer „Instagrammability“ – also ihrer Eignung für attraktive Fotos – ausgewählt.
Neben Hotspots wie Wien, Salzburg oder Hallstatt sind vor allem Naturschauplätze bei Instagram-Fotografen beliebt – mit teilweise schwerwiegenden Folgen für die Natur. Denn anders als traditionelle Besucher, die kommen, um zu wandern, sich zu erholen und die Natur zu genießen, sind Instagram-Touristen oft nur auf das perfekte Foto aus, für das sie lange Anfahrts- und Wartezeiten in Kauf nehmen.
Touristenorte wie der Pragser Wildsee in Südtirol, der Krka Nationalpark in Kroatien, oder der Dachstein in Österreich sind Beispiele für solche Orte. Obwohl die betroffenen Orte von außergewöhnlicher natürlicher Schönheit sind, verlieren sie durch den Massentourismus an Reiz. Dennoch bleibt die Anziehungskraft dieser „idyllischen“ Schauplätze bestehen, getrieben von der Vorstellung, dass man einmal „da gewesen“ sein muss.
Allerdings gefährden viele Instagrammer auch sich selbst. Wanderausrüstung scheint für viele ein Fremdwort zu sein. Stattdessen schleppen sie – ausgestattet mit Sandalen und lockerer Sommerkleidung – Schminkkoffer, Hochzeitskleider und andere modische Accessoires mit sich. So ausgerüstet sind sie auf steilen Wander- und Waldwegen unterwegs oder klettern auf Felsen herum.
Unfälle sind damit vorprogrammiert. So gab es etwa am Königssee Wasserfall-Pool im Nationalpark Berchtesgaden bereits mehrere Unfälle. Im Jahr 2021 wurde der als „Natural Infinity Pool“ bekannte Foto-Hotspot schließlich komplett gesperrt.
Markante Gebäude, Dörfer, Städte oder Landschaften können plötzlich zu einem Touristen-Hotspot werden, wenn sie als Drehort für einen Film oder eine Fernsehserie genutzt wurden. Die Beispiele sind bekannt: In der Küstenstadt Dubrovnik wurde „Game of Thrones“ gedreht, seither wird die historische Altstadt überrannt.
Das unfassbarste Beispiel bietet die HBO-Serie „Chernobyl“, die auf dem Reaktorunglück von Tschernobyl im Jahr 1986 basiert. Seither reisen Zuseher an den Ort der nuklearen Katastrophe. Hunderte von Menschen unternehmen Tagestrips in die Sperrzone.
Dabei müssen Touristen nicht immer dorthin gehen, wo sowieso schon alle hinreisen. Tolle Filmschauplätze gibt es nämlich auch in Österreich:
Die 750 Einwohner des österreichischen Ortes Hallstatt hat diese Form des Tourismus allerdings besonders hart getroffen. Bis zu 10.000 Besucher täglich und rund eine Million Besucher jährlich muss der kleine Ort verkraften. Das Verhältnis von Tourist zu Einwohner ist fast dreimal so hoch wie in Dubrovnik und mehr als sechsmal so hoch wie in Venedig.
Einer der Hauptgründe für diesen Zustrom ist die südkoreanische Netflix-Serie „Spring Waltz“ aus dem Jahr 2006, die zum Teil in Hallstatt gedreht wurde. Seither wollen viele Asiaten den Ort sehen. Für einen zusätzlichen Hype sorgte der Nachbau des Dorfes in China samt See und Marktplatz.
Und mittlerweile verstärken Tausende #hallstatt UNESCO Weltkulturerbe und Instagram Hotspot-Selfies den Hype. Damit potenziert sich das Problem in Hallstatt, da viele Besucher nur für ein paar Fotos kommen, also im Ort selbst kein Geld ausgeben.
Wenn Tourismus die Grenzen der Nachhaltigkeit überschreitet, manifestieren sich die Folgen deutlich gravierender als nur in langen Warteschlangen vor lokalen Sehenswürdigkeiten. Die Auswirkungen von Übertourismus sind tiefgreifender als allgemein angenommen und belasten Lebensweise, Kultur, Flora und Fauna, Infrastruktur und vieles mehr vor Ort:
Übertourismus betrifft Destinationen auf unterschiedliche Weise. Es gibt viele Lösungsansätze, aber kein Patentrezept, das überall funktioniert. Hinzu kommt, dass Interessenkonflikte zwischen Tourismuswirtschaft und Einheimischen oft nicht so einfach überbrückt werden können.
Die Problematik des Übertourismus lässt sich nicht mit einem Einheitsansatz lösen. Bei der Bewältigung von Herausforderungen muss eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Gästesegmente vorgenommen werden. Ein undifferenzierter Umgang könnte die lokale Wertschöpfung beeinträchtigen, insbesondere wenn es um Tagestouristen geht, die von naheliegenden Urlaubsorten für einen Ausflug in die Städte kommen. Diese Gruppe trägt erheblich zur lokalen Wertschöpfung bei und sollte nicht durch restriktive Maßnahmen abgeschreckt werden.
Ein kritischeres Segment sind hingegen Touristen, die zum Beispiel im Rahmen von „Europa in 10 Tagen“-Touren mehrere Destinationen an einem einzigen Tag abklappern und meist nur eine Stadtrundfahrt buchen. Um die negativen Auswirkungen dieser Kurzbesuche zu minimieren, könnten hohe Einfahrts- und Parkgebühren eingeführt werden.
Eine mögliche Strategie wäre die Erhebung einer Gebühr von beispielsweise 500 Euro, die dann in Form von Gutscheinen für lokale Geschäfte zurückgegeben wird. Eine solche Maßnahme wurde bisher noch nicht erprobt, könnte aber eine innovative Lösung darstellen, um die ökonomische Wertschöpfung zu steigern und gleichzeitig die touristische Belastung zu regulieren.
Um die Aufenthaltsdauer von Touristen in Stoßzeiten effizienter zu gestalten und Warteschlangen zu vermeiden, setzen einige touristische Hotspots auf digitale Buchungssysteme. Besucher können über Online-Plattformen oder spezielle Apps verfügbare Zeitslots reservieren, um Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.
Dieses Verfahren optimiert den Besucherfluss, reduziert Überfüllung an Points of Interest (POIs) und steigert somit die Besuchsqualität. Beispielhaft für diese Praxis sind die Kultur-Ticket-Systeme in Graz und Linz, die es ermöglichen, Eintrittskarten für Museen und andere kulturelle Einrichtungen online zu buchen und gleichzeitig die Besucherzahlen zu überwachen und zu steuern.
Um die Besucherströme in touristischen Hotspots geographisch besser aufzuteilen, setzen viele Destinationen auf digitale und infrastrukturelle Lösungen sowie die Dezentralisierung von Attraktionen.
Europäische Städte setzen verstärkt auf finanzielle Maßnahmen zur Steuerung des Massentourismus und zur Minderung seiner negativen Auswirkungen. In Barcelona wurden die Taxen verfünffacht, wobei ein Teil der Einnahmen direkt der lokalen Bevölkerung und der Infrastruktur zugute kommt. Berlin nutzt Gebührenmodelle, wie eine Übernachtungsgebühr, und überprüft bei Airbnb-Übernachtungen verstärkt die korrekte Versteuerung.
Ähnlich verhält es sich in Paris, wo durch einen 50%igen Anstieg der Ticketpreise für den Eiffelturm umfangreiche Sanierungsarbeiten finanziert werden. In Venedig wird seit 2024 eine Eintrittsgebühr für Tagestouristen erhoben, um die Besucherzahlen besser steuern zu können. Auch am Comer See soll jetzt eine Touristengebühr eingeführt werden, um die gehobenen Urlauber in ihren Luxus-Etablissements nicht abzuschrecken.
Darüber hinaus werden in vielen touristischen Einrichtungen dynamische Preismodelle eingesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist der Burj Khalifa, wo aufgrund von Kapazitätsbeschränkungen Preise für Zeitslots variieren, insbesondere während der Stoßzeiten bei Sonnenauf- und -untergang. Skigebiete in Österreich setzen ebenfalls vermehrt auf dynamische Preise für Tagestickets, die sich je nach Nachfrage ändern.
Die Lösung kann nicht darin bestehen, den Tourismus in einer davon abhängigen Region zu schwächen oder abzuschaffen. Vielmehr sollte er neu konzipiert werden, insbesondere durch die Förderung der Nebensaison mit erweiterten Angeboten. Durch das Promoten weniger beliebter Reisezeiten streben einige Destinationen eine gleichmäßigere Verteilung der Touristen über das Jahr an. Am Beispiel des Königssees in Bayern zeigt sich, wie durch gezielte Veranstaltungen und Aktivitäten in der Nebensaison die Spitzenlasten der Hochsaison effektiv reduziert werden können.
Smart Destination Management Systeme (SDMS) spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Bewältigung von Übertourismus. Diese Systeme nutzen digitale Technologien, um Besucherströme zu steuern, Ressourcen effizient zu nutzen und die negativen Auswirkungen des Tourismus zu minimieren. In Österreich gibt es mehrere Beispiele, wie SDMS erfolgreich zur Bekämpfung von Übertourismus eingesetzt werden:
Die Probleme, die Übertourismus produziert, sind mitunter auf Fehlmanagement zurückzuführen: Denn Flugzeuge und Tourenbusse befördern unkontrolliert Besucher in die Stadt, egal, ob die Kapazitätsgrenze erreicht ist. Zukünftig könnte eine Echtzeit-Grafik die aktuelle Auslastung der Stadt anzeigen, einschließlich Hotels, Top-Attraktionen und Parkplätzen, sowie festgelegte Obergrenzen visualisieren, um eine Überfüllung zu verhindern.
Tourismusforscher Markus Pillmayer plädiert für eine neue Form des Tourismus, die den Einheimischen mehr Mitspracherecht gewährt und deren Lebensqualität berücksichtigt. Die Tourismusakzeptanz müsse mit bedacht werden. Denn egal, ob für Gäste oder Einheimische: Beide wollten vor Ort Lebensqualität.
Auch sollten Gäste in Übertourismus-Gebieten durch Aufklärungskampagnen auf die damit verbundenen Probleme aufmerksam gemacht werden. Der Nationalpark Berchtesgaden führt beispielsweise Bildungsprogramme durch, um das Bewusstsein für die Auswirkungen des Tourismus auf die lokale Flora und Fauna zu erhöhen.
Eine Strategie in diesem Kontext könnte darin bestehen Influencer in den sozialen Medien zu gewinnen, um auf die Risiken des Übertourismus aufmerksam zu machen und Menschen zu ermutigen, Orte abseits der touristischen Hotspots aufzusuchen oder Reisen außerhalb der Sommermonate zu unternehmen.
Vielleicht sollte auch jeder Besucher ein Manifest in die Hand gedrückt bekommen, das ihn an folgendes erinnert: Wer reist, trägt Verantwortung für sich, die Umwelt und die Menschen der Region, die er besucht. Wer diese Freiheit nutzt, sollte sie verantwortungsvoll in Anspruch nehmen.
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