Die Stimmung in Städten – ein Kaleidoskop von Eindrücken
23.11.2022
Gesellschaft, Kultur
23.11.2022
Gesellschaft, Kultur
Die Stimmung in Städten ist für das Wohlfühlen von BürgerInnen und BesucherInnen extrem wichtig. Übrigens: Atmosphäre ≠ Stimmung. Richtig ist: Atmosphäre prägt Stimmung. Die Atmosphäre ist „eine unpersönliche Wirklichkeit“ und auf eine bestimmte Person, Sache, ein Ereignis oder eine Vermischung solcher gerichtet. Die Stimmung hingegen ist als Melange des Ich- und Weltgefühls zu sehen.
Vor kurzem habe ich mich mit der Stadtmanagerin Doris Haider aus St. Valentin über genau dieses Thema unterhalten. Ich fragte sie: „Doris, wenn wir über Stimmungen in Städten sprechen – welche Stadt hat Dich bisher am meisten beeindruckt?“
Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie: „London. Ich habe längere Zeit mal in London gelebt und es ist und bleibt meine Lieblingsstadt. Als ich letztens in London war, genoss ich es richtig, mich zwischen all den anderen Menschen in einer Schlange anzustellen. Die LondonerInnen sind mega entspannt und unterhalten sich gerne beim Warten.
Wenn eine U-Bahn voll ist, dann wartet man halt ein paar Minuten auf die nächste und es ist niemand deswegen sauer. Ich liebe die Stimmung in dieser Stadt. Egal, wo ich bin – Städtetrip, Strandurlaub oder am Land – wenn ich an einem Ort neu bin, dann schnüre ich immer meine Laufschuhe und laufe durch die Gegend ohne wirklichen Plan und lasse mich durch Plätze und Straßen treiben.
Städte laufend erkunden macht mir persönlich sehr viel Spaß und ich kann dabei immer gleich Stimmungen einfangen. Das geschäftige, zweirädrige Treiben in Kopenhagen, der Sonnenaufgang im Winter in Stockholm, die Gerüche in Zadar, die Farben in Marrakesch.“
Ich habe zwei Jahre in London gelebt. Mein Eindruck war stets, dass mein interner Chronometer in London schneller schlägt. Im Alter von 25 Jahren akklimatisierte sich mein Puls rasch an die vibrierende Stadt. 15 Jahre später stresste mich die Hektik auf den Straßen bereits. Heute meide ich Städte, in denen ich mich schon beim Verlassen der U-Bahn-Station geduldig anstellen muss.
Obwohl ich Doris völlig recht gebe: richtig Schlangestehen – das können die Briten. Schlangestehen zu können gehört zur landesweiten Regel Nummer 1 dieser Nation. Sogar der Volksmund sagt: ‚Wenn sich zwei EngländerInnen begegnen, bilden sie eine Schlange.‘
An Haltestellen, in der Bank, am Fish & Chips Stand: Überall in England wartet man geduldig darauf, dass man drankommt. Niemand drängelt vor, alle halten Abstand zum Nachbarn. Das muss tatsächlich genetisch bedingt sein, meinen Doris und ich im Gespräch. Wenn sich ein/e ÖsterreicherIn beim Büfett, am Schilift oder bei der Post vordrängt, herrscht das Gesetz des Stärkeren.
Da wird ein Engländer nicht mit einem wütenden „Hinten anstellen!“ durch den Raum brüllen, sondern einfach mit einem gewissen Ausdruck der Verachtung reagieren. Doris lacht: „Ich dachte im Londoner Supermarkt, der sehr voll war: Ob da wohl gleich mal jemand „ Kassa bitteeee! (Cashier, pleeeease)“ in Richtung KassiererIn schreit?“ Nun, was glauben Sie? (Auflösung am Ende dieses Beitrags).
Das professionelle Anstellen hat mit dem englischen Fair-Play-Gedanken und der Wertehaltung rund um Diskretion zu tun. Regeln, an die sich jede Bürgerin und jeder Bürger und die BesucherInnen einer Stadt halten müssen, helfen dabei. Sie ersparen allen Beteiligten unnötige Diskussionen und vermeiden Streit.
Eine frühere Regierung wollte das Queuing sogar schon mal zum Bestandteil des Einbürgerungstests für Einwanderer machen – wer in Großbritannien nicht anecken will, sollte das Schlangestehen also schleunigst üben. Und wenn das am Ende dazu führt, dass auch hierzulande weniger vorgedrängelt wird, hätten alle was davon.
Wenn wir im Alltagsjargon sagen, etwas liegt „in der Luft“, dann ist damit unausgesprochen eine Atmosphäre gemeint. Der Begriff der „Stadtluft“ hebt sich im Unterschied zur „Landluft“ so auf die „gesamten Lebensbedingungen einer Stadt“ ab.
Eine Metapher, die die Atmosphäre einer ganzen Stadt symbolisiert, steckt im Titel des Militärmarsches „Berliner Luft“, der am Ende des 19. Jahrhunderts das freie Lebensgefühl in der Stadt feierte. Die Luft in Städten steht also für mehr als nur für Feinstaubwerte und die Reduktion aufs ökologische Thema.
Die Atmosphäre einer Stadt ist eine Art subjektive Erfahrung, die Menschen in der Stadt miteinander teilen. Sie erfahren sie als eine Qualität, die diese Stadt ausstrahlt. Es ist der Charakter einer Stadt, der dieser Stadt eigentümlich ist; etwas, worin sie
individuell ist.
Die Atmosphäre einer Stadt muss man spüren. Deshalb wird man Städte nie verstehen, wenn man nur Reiseberichte über sie in audiovisuellen Medien, wie im Fernsehen und Internet sieht.
Städte sind daher weit mehr als der visuelle Eindruck, den man auf den ersten Blick erhält. Ihre BewohnerInnen und BesucherInnen nehmen sie mit allen Sinnen wahr. All diese Aspekte tragen zur emotionalen Stimmung einer Stadt bei und prägen das Zusammenleben der Menschen.
Die Faktoren, die nämlich zur Atmosphäre einer Stadt beitragen sind Gerüche, Geräusche, die räumlichen Strukturen und sogar das Wetter (Nebel, Luft, Regen, Dämmerung), auch die Lebensform der BewohnerInnen, die allerdings selbst schon unter dem Einfluss dieser Atmosphäre steht. Warum schließen sich solche Faktoren zum Ganzen einer Stimmung zusammen? Tja, das ist und bleibt wohl ein Geheimnis.
Gerüche nehmen wir mit einem Schlag atmosphärisch wahr. Sie sind ein wesentliches Element, das zur Stimmung eines Stadtteils beitragen kann. Ich denke an die Manner Fabrik im 16. Wiener Bezirk. Jedes Mal, wenn ich in die Gegend fahre, will ich dort so lange wie möglich verweilen.
Die Luft, die man einsaugt, vermittelt das Gefühl von Gemütlichkeit, die Erinnerung an Oma, die Sehnsucht nach einer Reise in Willy Wonka’s Schokoladenfabrik. Wenn wir gen Norden reisen: Die alte Hamburger Speicherstadt roch vor ihrem Umbau zur HafenCity nach Gewürzen und gemahlenem Kaffee, weil diese Lebensmittel jahrzehntelang in den kaiserzeitlichen Bauten gelagert wurden.
Am Ufer eines Flusses riecht es mitunter ganz anders als in der Mitte einer vom Verkehr durchströmten Stadt. Das Mikroklima eines Stadtquartiers im Grünen fühlt sich nicht nur anders an als ein Stadtteil, der einer grauen Häuserwüste gleicht, es riecht auch anders. Manche Orte haben unverwechselbare Gerüche.
Als ich Ende der 90er Jahre in Mexiko City lebte, roch es in meinem Stadtviertel nach einer unwiderstehlichen Gewürzmischung, in der das Schweinefleisch für die berühmten Tacos al Pastor badete. Noch 20 Jahre später rieche ich Nuancen dieser Stimmung, die meinen Geruchssinn schärften.
Die Forschung beweist, dass sich Geruchseindrücke bei einer intensiven Bindung an einen Ort biografisch so tief in die Erinnerung einschreiben, dass sie noch nach langer Zeit der Abwesenheit wiedererkannt werden.
Wie Gerüche zählt auch Licht zu den „Erzeugern“ von Atmosphären und folglich Stimmungen einer Stadt. Licht entfaltet eine große Macht über das emotionale Raumerleben. Die Baumeister der gotischen Kathedralen haben es verstanden, religiöse Bedeutungen mit Gefühlen zu verbinden. Im Mittelalter diente einfachste Illuminationstechnik der Überwachung des öffentlichen Raums.
Licht wird als immaterieller Baustoff erst am Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Gegenstand ästhetischer Stadtgestaltung. Es schafft nicht nur Helligkeit; es emotionalisiert Dinge und Orte. Seit seiner Erfindung gilt das elektrische Licht als Symbol pulsierenden städtischen Lebens.
Der übers Pflaster gehende Passant ist nicht nur sichtbar, seine Schritte sind auch hörbar. Wer sich geräuschlos schleichend durch eine Gasse bewegt, weckt ein Gefühl der Furcht. Der fast geräuschlose Elektroroller erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit. Das Glockenspiel im Kirchturm stimmt die BewohnerInnen der Stadt atmosphärisch auf die Stunde des Gottesdienstes ein.
Dabei klingt Holz anders als Stahl und Glas anders als Beton. Die Bauten einer Stadt erzeugen Resonanzen, die sich in ihrem Charakter mit der Identität eines Ortes verbinden. Geräusche können daher einen Ort prägen und ihn zu einem unverwechselbaren Ort machen. Ich hatte für zwei Jahre das Privileg, im Wiener Palais Harrach wohnen zu dürfen.
Jeden Morgen wachte ich bei gekipptem Fenster vom Geklapper der Fiaker-Pferde auf, die die großen Räder der Fiakerkutsche über die Pflastersteine der Freyung zogen. Ich fühlte mich in ein anderes Jahrhundert versetzt. Ich liebte diese historisch anmutende Stimmung der Innenstadt.
Geräusche können aber auch nervtötend sein. Die Hintergrundmusik im Einkaufscenter, das Gedüdel im Aufzug oder die nervtötende Melodie, die mich in mancher Telefon-Hotline völlig irre macht – nehmen Sie solche Töne wahr und wie reagieren Sie darauf?
In Tokio hören PendlerInnen auf der Yamanote-Linie in jeder Metrostation eine stationstypische Melodie. Anstelle von Warnsignalen oder lauten Tönen, die signalisieren, dass die U-Bahn ein- oder abfährt, kommen elektronische Soundmelodien zum Einsatz, um die Rushhour erträglicher und weniger anstrengend zu gestalten.
Die Bahnsteigmelodien variieren von Station zu Station – Japan Rail hat rund 100 Melodien für das gesamte Tokioter Metrogebiet in Auftrag gegeben.
Ich war äußerst amüsiert, als ich am ersten Tag meines Aufenthalts in Tokio in der Station Ebisu auf die U-Bahn wartete und die Melodie des dritten Mannes ertönte (Min. 4:43 Youtube-Video link siehe oben im Absatz). Es brachte mich während der gesamten vier Wochen meines Besuchs in Tokio zum Lächeln.
Auch wo sich Menschen durch Bekleidungsstile in der Stadt präsentieren, wird auch ihre Identität im sozialen Raum der Stadt sichtbar. Ich denke sofort an die schick gekleideten BürgerInnen Mailands. Bürostädte sind nicht nur an ihren Bauten erkennbar, sondern auch an der Kleidung und dem Habitus der Angestellten. Ich denke sofort an das Finanzviertel Londons.
Was man an diesen Menschen sieht, drückt atmosphärisch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Feld aus, das in der Stadt seine Verankerung hat. Wer sich in einer charakteristischen Weise kleidet, will sich nicht in Sätzen erklären, sondern durch sein ganzheitliches Erscheinen beeindrucken: „The medium is the massage“.
Vor kurzem habe ich Jonas Deichmann, einen 35-jährigen Abenteurer und Triathleten, interviewt. Jonas, du bist auf Deiner Reise durch so viele Länder gelaufen. Welche Orte haben Dich am meisten beeindruckt in Sachen Stimmung?
Jonas antwortet: „Am meisten hat mich Mexico beeindruckt. Da bin ich als deutscher Forrest Gump bekannt geworden.*(2) Was mich am meisten berührt hat, war die Freude der Menschen und ihre Begeisterungsfähigkeit in diesem Land.
Wenn man aus Deutschland kommt und der Zug mal Verspätung hat, stehen die Leute da und bejammern ihr Schicksal; in Lateinamerika macht man das Beste draus. Es gibt so viele Probleme im Land, aber die Leute haben immer ein Lächeln am Gesicht.
„Die beste Stimmung weltweit gibt es meiner Meinung nach in Lateinamerika“, meinte Jonas weiter. „Ich habe bisher über 100 Länder bereist. Dort sind die Leute fröhlich und locker und sehen die Dinge generell mit Humor und Begeisterungsfähigkeit.
Die Lateinamerikaner leben mehr im Jetzt als wir Zentraleuropäer und genießen den Augenblick dementsprechend. Das ist deren kultureller Hintergrund, die sind alle so. Wir in Deutschland und Österreich haben ‚das fröhliche‘ ja nicht gerade gepachtet…“
Jonas hat drei Jahre in Brasilien gelebt. Er meint, das verändert dich. Jonas dazu: „Ich sag‘ immer ‚Ich bin Deutscher im Beruf und Latino im Privaten‘. Die Gelassenheit der Leute beeindruckt mich und hat auch mein Tun beeinflusst.
Wenn mal was schiefgeht, überlege ich: ‚Kann ich das ändern? Dann ändere ich es. Wenn nicht, dann akzeptier ich es und bin trotzdem glücklich. Das könnte man in Mitteleuropa durchaus mal ändern.“
*(2) Forrest Gump Deutschlands: Die Geschichte ist zu gut, um nicht erzählt zu werden. Jonas Deichmann erklärt mir, dass der Bericht über einen Mega-Triathlon, wie der, den Jonas 430 Tage lang rund um die Welt gemacht hat, normalerweise nur andere ExtremsportlerInnen oder die Fachpresse interessiert.
Warum sich das bei seinem letzten Projekt aufsehenerregend änderte, liegt an einem Quäntchen Glück. Jonas berichtet: „Warum es meine Abenteuerreise in die Mainstream Medien geschafft hat, liegt vor allem an der Begeisterungsfähigkeit der Mexikaner und der ansteckenden positiven Stimmung in diesem Land.
In Mexiko ist mir eine Straßenhündin hinterhergelaufen. Die habe ich kurzerhand adoptiert, also liefen wir gemeinsam und das wurde zur nationalen Newsstory. Plötzlich sind mir tausende Mexikaner hinterhergerannt und ich wurde täglich live im Fernsehen übertragen. Das war für drei Monate die nationale News Story, mit täglichem Update, wo ich gerade bin.
So wurde ich als der deutsche Forrest Gump bekannt. Ich hatte den Medienhype nicht geplant, aber natürlich kann man seinem Glück etwas auf die Sprünge helfen. Ich habe mir einfach eine Bubba Gump Mütze bestellt und mit meinem langen Bart habe ich so ein bisschen die Rahmenbedingungen für diese Story geschaffen.
Atmosphäre – Atemsphäre. Kein Mensch, der unter der Herrschaft von Stimmungen steht, ist frei. (Aus ‚Die Macht der Gedanken‘ von Orison Swett Marden).
PS: Die Auflösung zur Frage, ob der Engländer jemals: „Cashier please!“ quer durch den Kassenraum rufen würde? Die Antwort lautet Nein.
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Titelbild: Die Stimmung in Städten (c) Mark Timberlake on Unsplash
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