Podcast Stadtmarketing Austria: Claudia Brandstätter im Gespräch mit Ingo Türtscher

01.10.2021
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Hallo und herzlich Willkommen beim Podcast von STAMA Austria, dem Dachverband der österreichischen Stadtmarketingorganisationen. Einmal im Jahr trifft sich der Dachverband zur sogenannten DenkwerkStadt, um über die Zukunft der Städte und die Möglichkeiten, diese Zukunft zu gestalten, nachzudenken.

Eingeladen sind neben Kolleginnen und Kollegen aus Österreich und Südtirol auch immer Expertinnen und Experten aus der Soziologie, der Philosophie, Architektur, der Kultur oder der Regionalentwicklung. Neben dem direkten Austausch in der DenkwerkStadt laden wir Sie auch immer zum Gespräch in unseren Podcast, wenn wir schon mal die Möglichkeit haben, uns mit Ihnen zu unterhalten.

Heute ein Gespräch mit Ingo Türtscher. Er ist Geschäftsführer der Regio Großes Walsertal, ein UNESCO-Biosphärenpark in Österreich.

Ingo beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie kann die Gesellschaft eines Bergtales, wie dem Großen Walsertal, aktiviert werden, um gemeinsam eine enkeltaugliche Zukunft zu gestalten?

Wieviel Anregung von außen braucht es dazu und wieviel Wissen und Weisheit von innen?

 

Die Einleitung wurde gesprochen von Edgar Eller, Vizepräsident des Dachverbandes Stadtmarketing Austria. Das Gespräch führte Claudia Brandstätter.

 

 

 

Das Interview zum Nachlesen

Claudia Brandstätter: Ingo, du bist erst seit kurzem verantwortlich für die regionale Entwicklung des Großen Walsertals. Du lebst auch hier. Worin siehst du die Vorteile, dass du jetzt federführend hier mitarbeiten kannst?

Ingo Türtscher: Aus dem Tal kommend und jetzt wieder in dem Tal arbeiten zu dürfen, sehe ich wirklich als Privileg. Eigentlich war es ein langgehegter persönlicher Wunsch für mich, mich positiv in die Gestaltung dieses Tales einzubringen. Mein innerer Drang ist immer größer geworden. Da ich ein paar Jahre anderweitig unterwegs und nicht mehr im Tal lebend war, war ich sehr dankbar, dass sich diese Option aufgetan hat und ich mich jetzt, gestalterisch hoffentlich positiv, einbringen darf.

 

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Ingo Türtscher (c) Magdalena Türtscher

Wenn du das Große Walsertal beschreiben musst, wo siehst du die Vorteile mit denen man auch gut in der Zukunft weiterarbeiten kann?

 

Ingo Türtscher: es wurde schon angesprochen, diese Entwicklung des Großen Walsertals als Biosphärenpark-Region. Es gibt ein starkes Verständnis, eine starke Haltung der Menschen, wie sie ihr Tal wirklich als ihres sehen und wahrnehmen. In dem auch wirklich immer in einem diskursiven Verhältnis sind, wie sie ihren Lebensraum gestalten wollen. Das sehe ich als starke Basis dieser Entwicklung.

In zwanzig Jahren Biosphärenpark-Region ist dieses Verständnis aufgebaut worden, diesen Lebensraum gemeinsam gestalten zu wollen und das Ganze auch partizipativ zu sehen. Das ist eine sehr gute, gelebte Basis, auf der man jetzt weiter aufbauen kann und überlegen kann und muss, wie dieser Gedanke weiter gestärkt, vertieft und in welchen Feldern weitergedacht werden kann.

 

Was glaubst du, ist so zündend für dieses Verständnis? Gibt es etwas, das es woanders nicht gibt? Warum ist das Verständnis hier einfach viel größer?

Ingo Türtscher: Ich denke, dass Menschen ganz stark von Orten geprägt werden und sich damit auseinandersetzen. Im Idealfall prägen sie umgekehrt diese Orte mit ihrer Haltung. Von der Topographie her, das kann man schon sagen, ist dieses Tal sehr stark von der Natur geprägt. Es gibt steile Hänge und es gab immer wieder Naturkatastrophen, nach denen man sich, ein Stück weit immer wieder neu erfinden musste, sowohl infrastrukturell, aber auch emotional oder im Zusammenleben.

Es ist eine starke Prägung, die dieses Tal ausmacht. Ich glaube, das hat schon auch zu gewissen Haltungen geführt, die jetzt vielleicht gewisse Regionen versuchen, ein Stück weit für sich zu definieren und zu finden und vielleicht auch finden müssen, angesichts der großen Fragen, wie Umwelt oder Klima. Es wurde vielleicht ein bisschen in dieser Region von der Natur aufgezwungen.

Man hat sich vielleicht dadurch schon früher diesen Themen gestellt und ist jetzt auch in Zukunftsfragen gut aufgestellt.

 

Es gibt ein Leitbild. Ist dieses Leitbild als solches auch verantwortlich, dass sich das Verhalten der Menschen anders darbietet als in anderen Regionen?

Ingo Türtscher: Wie es sich wirklich im alltäglichen Verhalten widerspiegelt, kann ich schwer beurteilen. Was ganz stark angestoßen wurde, über dieses Leitbild, war das Bild: wir gestalten dieses Tal, diese Region gemeinsam. Dieses gemeinsame Entwickeln, die Teilhabe, die Selbstverwirklichung – also wirklich ein Bild zu generieren. Das ist ganz stark. Über den Leitbildprozess wird alle fünf bis sieben Jahre ein reguläres Intervall kreiert, um es gemeinsam partizipativ zu überarbeiten und zu schauen, wo wir uns hin entwickeln.

Was fehlt uns in diesem Leitbild? Was muss festgehalten werden, damit wir uns nicht in eine andere Richtung bewegen? Und klar, wirkt das ein bisschen als normatives Philosophiepapier. Wahrscheinlich richtet nicht jeder seinen Alltag jeden Tag nach diesem Leitbild aus. Aber ich glaube, ein so großer Diskurs ist ein wertvoller für die Bevölkerung, um sich wirklich stärker damit auseinanderzusetzen. Eben mit der Frage, wie wollen wir gemeinsam leben? Wie gestalten wir es?

 

Das heißt also, der Prozess selber ist verantwortlich, dass man sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat und sich auch regelmäßig auseinandersetzt. Und die große Fragestellung ist, wie wollen und wie werden wir gemeinschaftlich leben? Wie schaut aus der Sicht des Großen Walsertals die Antwort aus? Wie wollen die Menschen hier und wie werden die Menschen leben?

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Claudia Brandstätter (c) Magdalena Türtscher

 

Ingo Türtscher: Zum Glück kann das vermutlich niemand sagen.

Ich würde mir nicht anmaßen wollen, das beantworten zu können. Aber bezugnehmend auf das „Wollen“. Das ist ein bisschen mehr in der Gegenwart. Ich habe schon das Gefühl, dass dieses gemeinschaftliche, soziale Miteinander und diese Frage, in welchem Naturverhältnis wir miteinander stehen und wie wir mit dem Naturraum umgehen, relevant ist. Auch das Wissen, dass das eigentlich die Basis darstellt, dass der Naturraum generell schützenswert ist.

In so einer Region gilt es nochmal viel stärker zu wissen, in welchem Einklang man verpflichtet ist, mit der Natur zu leben. Aber darüber hinaus hätte ich jetzt schon das Gefühl, dass es nicht nur als Notwendigkeit gesehen wird, dass man mit der Natur agieren muss, sondern dass diese wirklich als etwas Schützenswertes und Chancenbringendes gesehen wird. Diesen intakten Naturraum, der ein Stück weit glücklicherweise frei von irgendwelchem Hype und Kommerzialisierungstendenzen im großen Stil geblieben ist, als wirklichen Wert zu erkennen.

Wir können auf dem stark aufbauen und versuchen in dieser Modellregion, die ja Biosphärenparks auch darstellen sollen, modellhaft Dinge umzusetzen, die vielleicht in anderen Regionen leider ein Stück weit schon verunmöglicht sind oder schwieriger möglich sind, durch gewisse Tendenzen, die sich schon abgeleitet haben.

 

Claudia Brandstätter: Das Thema im Einklang mit der Natur, das kann man für sich selber immer oder als Gemeinschaft immer wieder durchspielen. Es gibt unheimlich viele Möglichkeiten, wie man sich selber einbringen kann.

Das Große Walsertal hat in etwa 3600 Einwohner. Da lernt jeder jeden Tag von diesen Bewohnern und Bewohnerinnen dazu, im Einklang mit der Natur zu leben. Das hat dann schon eine gewisse Vorbildwirkung. Durch diese Vorbildwirkung werden wahrscheinlich ganz viele Menschen auch motiviert sein, mitzutun. Ihr seid ja auch als solches natürlich behutsam, aber doch in Kontakt mit Gästen.

 

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Wie sieht es aus, im Einklang mit der Natur touristische Nutzung anzubieten?

Ingo Türtscher: Beim Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur ist es natürlich klar, dass die Wirtschaft einen Teil einnimmt, auch der Tourismus.

Über die Biosphärenpark-Philosophie wurde in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Belangen geschaut, wie leitet sich das ab? Wie können wir das auch wirklich umsetzen? Es gibt ein Leitbild auch in Richtung des Tourismus. Diesen nicht nur als Marketingstrategie zu sehen, sondern auch zu definieren, welche baulichen Regelungen es gibt.

Wie wird etwas baulich etwa im Bereich Kreislaufwirtschaftsnutzung eingebunden, wie können regionale Produkte wie eingebunden werden? Man versucht, dieses Bild natürlich ganzheitlich zu sehen. Da geht es um eine authentische Position, die man beziehen möchte.

Man kann schwer sagen, in diesen drei gesellschaftlichen Feldern, achten wir ganz stark darauf und die anderen lassen wir laufen wie sie wollen. Ganz wichtig ist, dass es nicht, als vorschreibendes Element gesehen, sondern als Möglichkeit, als Instrument wahrgenommen wird, zu sagen: wir haben diesen Raum. Wir haben diese Leitbilder. Es sind viele, neben dem Kernleitbild gibt es Haltungen und Themen.

 

 

Wie können wir diesen Lebensraum so gestalten, damit das so gut wie möglich im Einklang ohne große Nutzungskonflikte funktioniert?

Ehrlicherweise gibt es natürlich wie in jeder Region unterschiedliche Interessenslagen. Diese gilt es so gut als möglich zu nivellieren und zu schauen, wie man sich als Gesamtregion mit diesem Bild gemeinsam entwickelt.

Ich glaube, dass sowohl im zivilgesellschaftlichen Sektor, als auch wirtschaftlichen Betrieben, Landwirtschaft und Tourismus, ein gutes Übereinkommen herrscht. Dass diese Landwirtschaftsbetriebe in Berglagen, auch noch mit drei Stufen Landwirtschaft, neben dem Tourismus noch möglich sind. Das ist ganz wichtig.

 

Claudia Brandstätter: Ich finde, dieser Einklangsgedanke führt auch dazu, dass man einerseits ökonomisch, andererseits auch emotional gut leben kann. Damit sind natürlich qualitätsmäßig bestimmte Anforderungen auf der einen Seite zu erfüllen: Auf der anderen Seite muss auch Verantwortung übernommen werden. Etwa für diese Lebensmittel, die es hier gibt und die ja mitunter eine Besonderheit darstellen. Ich mag jetzt nicht nur den „Walserstolz“ erwähnen, der sicherlich einer der tollsten Käse sind, die wir in Österreich haben.

Macht es nicht stolz, dass das auch ein Resultat von diesem Einklang mit der Natur ist, die für Lebewesen emotional etwas ganz Besonderes zu bieten hat?

Ingo Türtscher: Das ist das Schöne, dass sich das für jeden individuell wieder anders zeigt und ableitet. Dieses Haltungsthema, das Verantwortungsgefühl gegenüber der Region bedeutet, ist schon stark vorherrschend. Das ist eine spannende Tendenz, die ich im Tal wahrnehme.

Dass ganz viele Junge, Jungfamilien, die in der Region aufgewachsen sind, nach dem Studium oder anderen Tätigkeiten, konkret den Zug auch wieder zurückfinden ins Tal. Es ist irgendwo diesem Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Region zuzuschreiben:  ich war unterwegs, ich habe Erfahrung gesammelt und möchte jetzt wieder für die Gemeinschaft da sein. Diese ist sehr kleinräumlich strukturiert. Man kennt sich irgendwo auch.

Du hast die Einwohnerzahl genannt, das ist von der Größe ein kleineres Grätzl in Wien oder so. Also man kann das wirklich auch so betrachten: diese Gemeinschaft schaut, versucht miteinander einen Weg zu finden und auch für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, wie man das Tal entwickelt.

Ganz wichtig in der Biosphärenpark-Philosophie oder Strategie ist, dass es ganz stark um dieses gemeinsame Entwickeln geht.

Mitunter gibt es auch ein bisschen die Wahrnehmung, alles wird politisch von oben gesteuert. Natürlich gibt es politische Gremien. Die sind auch wichtig, ganz wichtig. Aber trotzdem, dieses Bild des gemeinsamen Gestaltens bleibt. Ich glaube, das wäre auch ein Bild, was man noch in Zukunft noch ein bisschen mehr stärken könnte.

 

Menschen brauchen Menschen, um soziale, angenehme Gefühle zu erleben. Im Speziellen junge Menschen, Kinder, die hier etwas mitnehmen für ihr ganzes Leben. Jetzt drängt sich natürlich die Frage auf, ist es für eine Familie möglich, hier tatsächlich leistbar zu leben? Wenn sie genau auf diese Dinge wert legt: Kontakt, Menschlichkeit, Lebensqualität, ein nettes, ein bereicherndes Miteinander. Ist das, wir sind ja schließlich in Vorarlberg, für eine junge Familie möglich, hier im Großen Walsertal zu leben?

Ingo Türtscher: Ich würde sagen, ja. Es gibt gewisse Punkte, die es abzuwägen gilt. Es gibt natürlich Vorzüge/ Nachteile des städtischen Raums gegenüber dem ländlichen Raum. Wobei ich schon sagen muss, ländlicher Raum ist nicht die Fachdefinition per se. Aber wir sind ja, gerade Vorarlberg betrachtend, relativ in diesem Stadt-Land-Gefüge.

 

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Neben den vielen Themen, die es anzugehen gilt, ist das leistbare Wohnen für Jungfamilien ein ganz zentrales Thema.

Aktuell werden in jeder Gemeinde im Dorfzentrum Wohnungen gebaut, um genau diesem Anspruch gerecht zu werden, die Ortskerne zu stärken, junge Familien anzusiedeln.

Aber natürlich gibt es begrenzende Faktoren – etwa das Thema Mobilität-, die natürlich ein Stück weit auch bedacht werden müssen. Die Abhängigkeit von einem Auto. Das hindert vielleicht Gewisse. Nicht alle Strukturen sind in der Nähe so verfügbar, wie das vielleicht im Städtischen der Fall ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass es Vor- und Nachteile gibt in der Region. Aber ich bin der Meinung, dass es gerade jetzt, wo die Jungfamilien angesprochen sind, ein sehr attraktiver Lebensraum ist.

Ein Stück weit liegt es daran, dass die letzten Lücken geschlossen werden, etwa im Bereich Breitband, Glasfaserausbau. Hier arbeiten wir massiv daran, diese digitale Kluft zum urbanen Raum zu schließen. Das ermöglicht auch viele neue wirtschaftliche Möglichkeiten, sei es jetzt Kreativwirtschaft oder digitale Berufe. Es ist wichtig, Stück um Stück dran zu bleiben und zu schauen, wo sehen wir Themen und Felder, die wichtig sind, damit dieses Gefühl entstehen kann.

Wenn wir jetzt in diesem transformativen Denken bleiben, ist es wichtig zu sagen, was braucht es, was braucht es aber auch bewusst NICHT.

Es ist ja eine bewusste Entscheidung, in so einem Tal oder in so einem ländlichen Raum zu leben, im Wissen, dass ich dann halt nicht die Staatsoper ums Eck habe. Das aber nicht als Verzicht oder was Fehlendes erachte.

Vielleicht auf gewisse Dinge zu verzichten oder sie nicht verfügbar zu haben, dafür aber eine Fülle an ganz anderen Dingen zu erleben. Das muss jeder auch für sich ausloten, wenn er sich entscheidet, in der Region zu leben.

 

(c) Magdalena Türtscher

 

Claudia Brandstätter: Das Auseinandersetzen mit der eigenen Lebensqualität und das bewusste Treffen von Entscheidungen, wird uns in Zukunft in vielen Fällen weiterhelfen, die Anzahl der glücklichen Jahre zu steigern. Weil auch im Großen Walsertal sind nicht mehr als fünfzig Jahre, auch wenn wir älter werden, glückliche Jahre.

Wir haben immer wieder gesprochen, man muss Menschen dazu anregen, dass sie sich mit etwas beschäftigen. Sie müssen die Möglichkeit haben, etwas mitzutragen. Sie müssen positive Aspekte sehen. Mehr Generationen, junge Leute wollen eine lokale, sich in Ordnung befindliche Welt. Wie sieht die Struktur aus oder wie sind die strukturellen Notwendigkeiten, damit das möglich ist?

Ingo Türtscher: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Orte anbieten müssen. Orte und Plätze, wo genau diese Verhandlung stattfindet. In der Literatur als dritte Orte oder Places bekannt.

Dass diese stetigen Verhandlungen, dieses gemeinsame Leben auch stattfinden kann. In den angesprochenen fünfzig Jahren hat es sich halt aus dem Wirtshaus zu einem anderen Platz verlagert, wenn denn das Wirtshaus überhaupt noch geöffnet hat. Natürlich gibt es auch diese strukturellen Fragen. Neu zu determinieren, was sind Orte der Begegnung, wie müssen die aussehen für uns?

 

Und parallel zu überlegen, wo liegt die Gestaltungskraft und wo liegt die treibende Kraft?

Man muss sich mit diesem Entwicklungsziel oder als Modellregion hinterfragen bzw. in eine Diskussion gehen, in welcher Form Strukturen auch entstehen müssen? Wo entstehen Gestaltungsprozesse?

Was muss politisch ermöglicht werden, damit diese Prozesse entstehen können, und wiederum in der Rückkoppelung, was wird an dieser Energie wieder politisch aufgenommen, um Dinge zu entwickeln? Dieses Zusammenspiel ist ganz wichtig. Zu schauen, wer kann welchen Verantwortungsteil in welcher Rolle in diesem Gesamtgefüge der Strukturen einnehmen, damit wir wirklich den höchsten, positiven Wirkungsgrad für die Region erreichen.

Aber ich will das schon auch noch betonen: es ist sehr regionsspezifisch.

Diese Region als Modell für etwas Größeres zu sehen und über Themen und Fragen nachzudenken, die uns alle beschäftigen. Einerseits dieses Bild nach innen und die Identität zu schaffen und andererseits Dinge modellhaft zu erproben und zu versuchen, sie umzusetzen. Vielleicht ermutigend zu sein, oder als praktisches Beispiel für andere Regionen zu dienen.

 

(c) Magdalena Türtscher, entstanden bei der DenkwerkStadt 2021 in St. Gerold Vorarlberg

Das heißt im Klartext, es ist nicht so sehr die Frage, welche und wie viele Strukturen es gibt, sondern, dass es um das Miteinander der Strukturen und das gemeinschaftliche positive Ziel, zum Beispiel die Steigerung der Lebensqualität geht?

Ingo Türtscher: Absolut. Wenn man das ganz nüchtern betriebswirtschaftlich betrachtet, dann hat man das Gefühl, wie stark normativ dieses Visionsbild und dieses Haltungsbild über die zwanzig Jahre Biosphärenpark gestärkt wurde.

Die Strukturen bauen sich meines Erachtens ein Stück weit selbst.

Welche Strukturen braucht es, um dieser Vision, diesem Wunsch, den wir verfolgen, auch gerecht werden zu können? Das ist ein ganz wichtiges Bild. Diese Frage beschäftigt wahrscheinlich nicht nur diese Region, sondern auch viele andere Regionen.

 

Es geht nicht mehr darum, wie viele und welche, sondern mit welchem Ziel beziehungsweise mit welcher Verantwortung wird die jeweilige Aufgabe von welchen Menschen wahrgenommen? Da sind wir ja auch wieder bei der Tatsache: Menschen machen das Große Walsertal heute und morgen groß.

Ingo Türtscher: Absolut. Visionen brauchen Visionäre und Pioniere, die Dinge umsetzen. Vielleicht mal vorangehen und auch nicht immer die leichtesten Wege gehen, das ist unumgänglich. Es hängt natürlich an starken Personen, aber ist dann auch ein Stück weit strukturell institutionalisiert.

Diese Pioniere und Menschen, die wirklich brennen und diese Energie einbringen wollen, fürs Gemeinwohl zu entwickeln, die braucht es unbedingt in allen Ebenen.

 

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(c) Magdalena Türtscher

Claudia Brandstätter: In deiner Wahrnehmung, was war das besonders Positive oder was haben alle aus der Region hier mitgenommen aus den letzten 18 Monaten Störereignis Corona?

Ingo Türtscher: Grundsätzlich denke ich, dass die Region wieder begonnen hat, gewisse Dinge zu hinterfragen, sei es den Wert lokaler Lebensmittel, die Nahversorgungsthematiken, den Wert der Landwirtschaft, mit der Raumpflege als solches, also als Kulturlandschaft betrachtet.

Der Biosphärenpark liegt geographisch inmitten von Vorarlberg und wird auch stark als ein Natur- und Naherholungsgebiet Vorarlbergs gesehen. Das war natürlich auch stark frequentiert. Auch zu schauen, welche Verantwortung man wieder ein Stück weit hat, quasi auch hier Nutzungskonflikte oder dergleichen zu vermeiden. Ich glaube, das war eine Erkenntnis aus der Zeit. Aber ansonsten denke ich, ist es recht individuell.

 

Claudia Brandstätter: Das heißt, wenn man am richtigen Weg ist, können auch Störereignisse eine bestätigende Funktion übernehmen, dass all das, was man sich denkt und was man in den Alltag implementiert, auch unter Umständen, unter widrigsten Umständen, Lebensqualität steigern kann?

Ingo Türtscher: Absolut, das haben wir wahrscheinlich über Monate in verschiedensten Reihen genug diskutiert, dass Corona ein Beschleuniger war für gewisse Dinge.

Gerade im ländlichen Raum ist das Thema Homeoffice zu hinterfragen. Als ausgewiesene Pendlerregion, ist zu prüfen, welche Wege wir gehen könnten, damit man vielleicht über neue Erfahrung der Arbeit sprechen kann. Damit man diese Themen irgendwo adressieren kann, um zu sagen: wir haben jetzt gesehen, dass es möglich ist, von einer ländlichen Region aus für internationale Unternehmen, zu arbeiten. Welche Wege könnten wir gehen, um Pendlerverkehr einzuschränken? Vielleicht gibt es Public Offices, die man zum Zusammenleben in den Dörfern aufbauen und somit wieder dörfliche Strukturen entwickeln kann.

Für mich ist das eine ganz spannende Thematik.

Viele Felder sind jetzt stärker aufgebrochen worden. Es wäre ein längerer Weg gewesen sie zu thematisieren. Durch Corona waren sie einfach auf den Schlag da. Jetzt gibt es die Möglichkeit, positive Stellungnahmen zu machen, zu sagen, diese Entwicklung verfolgen wir weiter, in der Hoffnung, dass sich die Pandemie auch abflacht. Aber dennoch an den Entwicklungen konkret dranzubleiben.

 

(c) Magdalena Türtscher

Ich glaube auch, dass es ein hervorragendes Beispiel ist, an dem man ganz deutlich erkennen kann, dass richtige Wege sich in herausfordernden Zeiten bestätigen und auch in Zukunft viel Potential haben können. Abschließende Frage. Wo siehst du, abseits der Menschen hier und den momentan vorhandenen Gegebenheiten für die Zukunft, Erfolgspotential?

Ingo Türtscher: Es gilt an die substantiellen Kernfragen zu gehen. Was bedeutet ein gutes Leben für uns? Wie wollen wir das verhandeln? Das Potential im Großen Walsertal sehe ich darin, sich anzubieten als echtes, modellhaftes, mögliches Zukunftslabor. Schon topographisch durch die Begrenzung der Berge und durch die Kleinheit, brechen wir ganz bewusst diesen Charakter auf.

Es geht um das Thema Scheiterkultur/Fehlerkultur. Bewusst zu sagen: wir gehen ergebnisoffene Prozesse an, wollen diese ein Stück weit öffnen, aber nicht nur zu unserem Nutzen, sondern um wirklich im Größeren etwas beitragen zu können. Ich glaube, es wäre schon viel getan, wenn man einfach sieht, dass einzelne Dinge funktioniert haben, andere nicht.

Die werden vielleicht wieder von anderen Regionen übernommen oder in die jeweiligen lokalen Kontexte übersetzt. Ein Stück weit könnte sich so ein positives Netzwerk bilden. Ich bin sehr daran interessiert, dieses Tal zu entwickeln oder mitzugestalten und sehe das nicht in Konkurrenz zu anderen Regionen.

Ich habe das Gefühl, dass wir nur als lernende Netzwerke miteinander agieren können, um uns gesamtheitlich positiv zu entwickeln.

Dieser kooperierende Gedanke muss ganz stark weitergelebt werden. Ich weiß, dass das im touristischen Kontext nicht immer ganz so einfach ist, das so zu sehen.

 

Claudia Brandstätter: Es wird auch nicht einfacher.

Ingo Türtscher: Es wird nicht einfacher, das ist mir bewusst. In dem wir auch ein Stück weit wissen, wie wir uns entwickeln müssen, sei es mit größeren Zielen über Green Deal und Co, wissen wir auch, dass wir alle ein gutes Leben mit ein bisschen weniger Konsum miteinander gestalten können.

 

Claudia Brandstätter: Das sind super abschließende Worte. Weniger ist oft richtig viel mehr. Und wenn man sich selbst als stolzen Bestandteil eines außergewöhnlichen Versuches sieht, der schon in der Gegenwart und Vergangenheit erfolgreich war, was kann da noch schiefgehen? Mit Mut gekoppelt wünsche ich dir viele tolle Erlebnisse noch heuer und auch in den Jahren danach. Dankeschön für das Gespräch.

Titelbild: Ingo Türtscher im Gespräch mit Claudia Brandstätter (c) Magdalena Türtscher, alle Bilder sind entstanden bei der DenkwerkStadt 2021 in St. Gerold Vorarlberg

 

Karin Klotzinger

Vereinsmanagement Dachverband Stadtmarketing Austria

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