Interview: Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Metatrends
02.08.2022
Trends
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Die Auswirkungen der aktuellen gesellschaftlichen Metatrends auf unser Leben in Städten und Orten, und was das mit der Schönheit unserer Lebensräume zu tun hat – Inga Horny, Präsidentin des Dachverbandes Stadtmarketing Austria im Gespräch mit Professor Ursula Maier-Rabler von der Universität Salzburg. Ein Interview.
Inga Horny: Hallo und herzlich willkommen zum Podcast von STAMA Austria, dem Dachverband der österreichischen Stadtmarketing-Organisationen. Einmal im Jahr trifft sich der Dachverband und seine Mitglieder zur sogenannten DenkwerkStadt, um über die Zukunft der Städte und Möglichkeiten, diese Zukunft zu gestalten, nachzudenken.
Eingeladen zu dieser DenkwerkStadt sind neben den Kolleginnen und Kollegen aus Österreich und Südtirol auch immer Expertinnen und Experten aus der Soziologie, der Philosophie, der Architektur, der Kultur oder der Regionalentwicklung.
Neben dem direkten Austausch in der DenkwerkStadt laden wir sie auch immer nach Möglichkeit zu einem Gespräch für unseren Podcast ein. Ich spreche heute mit Professor Ursula Maier-Rabler von der Universität Salzburg. Sie ist Kommunikationswissenschaftlerin und wird heute an unserem Gespräch teilnehmen.
Mein Name ist Inga Horny. Ich bin Präsidentin des Dachverbandes Stadtmarketing Austria. Unser heutiges Thema ist die Auswirkung der aktuellen gesellschaftlichen Metatrends auf unser Leben in Städten und Orten, und was das mit der Schönheit unserer Lebensräume zu tun hat.
Inga Horny: Herzlich willkommen, Ursula Maier-Rabler.
Ursula Maier-Rabler: Ja, herzlich willkommen auch von meiner Seite!
Ursula Maier-Rabler: Unter Metatrends versteht man übergeordnete Dynamiken, die unsere Gesellschaft betreffen und verändern. Diese werden auch mehr oder minder kommen, also können nicht mehr abgewendet werden. Der Begriff Meta bedeutet, dass es über kurzlebige Trends hinausgeht.
Ein Beispiel der wesentlichen Metatrends, die ich derzeit sehe, ist natürlich die Klimakrise, also eine Entwicklung, die uns unwiderruflich betrifft. Damit einhergehend, ist natürlich die Migrationskrise. Ich würde sie nicht notwendigerweise Krise nennen. Es kann auch eine Migrationschance sein – Migration als Metatrend. Ganz zentral und als Infrastruktur darunter liegend ist der Metatrend der Digitalisierung.
Ursula Maier-Rabler: Man kann schon sagen, Digitalisierung ist mein Lebensthema. Man glaubt immer, dass es eine jüngere Entwicklung ist. Sie hat aber schon in den 50er Jahren begonnen. Zum Teil auch sogar schon in den 40er Jahren, in Amerika, als Versuch, eine unabhängige Kommunikationsinfrastruktur zu entwickeln, die unzerstörbar ist.
Das Interessante an der Digitalisierung ist, dass schon in diesen frühen Entwicklungen Weichen gestellt wurden, die heute noch wirken, obwohl man sich damals überhaupt nicht vorstellen konnte, wohin die Digitalisierung führen würde.
Begonnen hat es damit, dass das amerikanische Militär, gemeinsam mit Universitäten ein Forschungsinstitut gegründet hat, um herumzuexperimentieren und zu schauen, was man machen könnte. So etwas würde in Europa nie passieren, weil wir immer getrennte Segmente haben.
In Europa würde sich das Militär nie mit einer Uni zusammentun. Das wäre viel zu unsicher. Die Uni-Leute kann man nicht kontrollieren. Dieses über die engeren Sektorengrenzen Hinausgehen und zu schauen, was kriegen wir miteinander weiter, das ist eine amerikanische Eigenschaft, die ganz zu Beginn des Internets schon da war.
Das war einerseits die damals schon existierende Computertechnologie, die Großrechner, die Rundfunktechnologien und die Telefonie. Diese wurden zusammengeführt. Dann hat sich andererseits, über eine Art gemeinsame Sprache, damit diese drei Systeme miteinander reden können, das Internet entwickelt.
Was ich spannend finde an dieser frühen Zeit in den 50er, 60er Jahren ist, dass das Militär bereits erkannt hat, was an Möglichkeiten zur Kommunikation drinnen steckt, die man nicht mehr kontrollieren kann. Die Unis haben da sehr stark mitgewirkt. Natürlich haben die Uni-Leute gesagt: „Ja, ich möchte auch dabei sein und ich möchte auch an die andere Uni eine Botschaft schicken können.“
Dieses zivile Internet, das dann weiterentwickelt wurde, war damals in den 60er, 70er, auch noch in den 80er Jahren, eine enorme Möglichkeit, Menschen miteinander zu vernetzen und Zugang zu Information schaffen, die es bisher nicht gegeben hat. Damit war sehr viel Hoffnung verbunden.
Gerade die Friedensbewegung, die Umweltbewegung, also PeaceNet und EcoNet und wie sie alle geheißen haben. Die Frauenbewegung, vorwiegend auch gesellschaftliche Bewegungen, die in den traditionellen großen Medien nicht vorgekommen sind und kein Sprachrohr hatten. Für die war das natürlich eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten.
Aber natürlich auch für die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die plötzlich ein System hatten, damals noch mit einem simplen E-Mail. Das kann man mit den heutigen Möglichkeiten gar nicht vergleichen, aber dennoch: es war eine große Hoffnung da, plötzlich die größte Lern- und Informationsmaschine der Welt zu haben.
Ich bin in dieser Zeit, in den frühen 80er Jahren, eingestiegen und habe noch erlebt, wie in Österreich die Unis an das Internet angeschlossen wurden. Nämlich an das CERN-Rechenzentrum in der Schweiz. Es hat eine Standleitung gegeben vom CERN nach Wien und von Wien dann an die anderen Universitätsstandorte.
Das war irre aufregend: „Boah – wir sind da jetzt dabei und wir können mitreden in der Welt.“ Ungefähr Mitte der 90er Jahre hat dann die Wirtschaft davon Wind bekommen. „Boah, da ist etwas, das könnte man ja nützen.“
Universitäten entwickelten mit ihrer fast ehrenamtlichen Arbeit das Netz. Da floss kaum noch Geld. Als Unternehmen in den 90er Jahren das übernommen haben, kam der riesige Boom. Viele haben an das große Geld geglaubt. Ende der 90er Jahre zerplatzte die Dotcom-Bubble.
Aber es hat die Wege dafür geebnet, dass dann ab den 2000er Jahren mit Social Media die großen Plattformen wie Facebook und vor allem Google (auch Amazon war schon dabei) dann einfach das Netz übernommen haben. Ich sage oft, dass ihnen das die Unis weltweit geschenkt haben, weil sie nichts dazu beigetragen haben.
Plötzlich haben sie das Potential entdeckt und gemerkt, dass sie dort gute Geschäfte machen können, indem sie die Daten, die wir erzeugen, absaugen und daraus etwas Neues, Anderes machen und Unmengen damit verdienen, und wir als User davon nichts haben.
Workshop
Inga Horny: Das ist eine spannende Feststellung, die mich zu zwei Fragen führt, nämlich einerseits: diese großen Maschinen, Google allen voran und der Konzern Meta verdienen am Internet, das ihnen die Unis zur Verfügung gestellt haben, vor allem mit den Daten enorm. Darüber werden wir vielleicht auch noch sprechen.
Aber die zweite Frage, die mich jetzt in dem Zusammenhang interessiert, ist: Ich orte hier eine Teilung der Gesellschaft. Jene, die mitpartizipieren können, und jene, die zurückgelassen werden. Familien, die sich keine Laptops oder Smartphones leisten können. Da bleiben die Kinder oft zurück und kommen mit der Digitalisierung nicht mit. Von Senioren, Seniorinnen gar nicht zu sprechen.
Ursula Maier-Rabler: Ja, natürlich. Ich sehe schon auch, dass Digitalisierung eigentlich die Spaltung der Gesellschaft auf verschiedensten Ebenen vorantreibt und unterstützt. Das, was Sie jetzt am Schluss erwähnt haben, ist die Sichtbarste. Man spricht einerseits von „Digitalisierungsverlierern“.
Das sind jene, die einerseits in Ausbildungen oder in Berufen tätig sind, die zum Teil durch Digitalisierung sehr stark verändert bis ersetzt werden. Gerade einfache manuelle Tätigkeiten sind mittlerweile in den meisten Unternehmen automatisiert.
Klassische Arbeiter, die immer die gleichen Tätigkeiten ausführen, wurden somit ersetzt. Es ist eine Gruppe, die zum Teil auch sehr anfällig für populistische Heilsversprechungen ist. Man muss schon sehen, dass diese Digitalisierungsverlierer auch die sind, die etwa Trump oder Brexit-Wähler sind.
Sie haben das Gefühl, völlig vergessen worden zu sein, sind zum Großteil arbeitslos, haben geringere Einkommen, sie können gar nicht aufholen. Sie können ihren Familien, ihren Kindern diese Möglichkeiten nicht bieten. Da kommt dann das Problem:
Ich sehe das nur sehr rudimentär, weil Klassen mit Laptops auszustatten ist nicht das, worum es hier geht. Sondern es geht wirklich um viel größere Dinge. Es geht darum, Menschen, Eltern mitzunehmen, die das unterstützen.
Es ist eine Entwicklung der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, einfach gesagt. Aber es gibt auch noch viel mehr, das der Digitalisierung innewohnt und zu so einer Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich führt. Ich würde fast sagen in Superreich und den Rest der Gesellschaft.
Das hat viel damit zu tun, dass die Technologie der digitalen Netzwerke und die damit verbundenen Möglichkeiten für den globalen Geldtransfer von Beginn an von der Finanzwelt sofort erkannt wurden. Die Finanzwirtschaft war eine der ersten, starken Sektoren der Gesellschaft, die das Internet eingesetzt haben.
Das entwickelte sich dann in den letzten 20 Jahren mit der fortschreitenden Digitalisierung in Richtung Automatisierung und künstliche Intelligenz weiter.
So, dass die gesamte Weltfinanzwirtschaft von dieser digitalen Technologie nicht nur abhängig ist, sondern sich auch die Art und Weise, wie „Geld“ gemacht wird, von der Digitalisierung beeinflusst ist, beziehungsweise fast ersetzt wurde.
Das ist eine große Dynamik, die zur weiteren Zerklüftung unserer Gesellschaft beiträgt. Es ist ein System, das in der Finanzkrise 2007/2008 mehr oder minder aufgeschlagen hat.
Durch ein globales Netz können in Millisekunden Botschaften, Daten und Informationen in die ganze Welt verbreitet werden, etwa ein Geldtransfer zwischen New York und Tokio. In diesen Nanosekunden zwischen den Zeitverschiebungen gibt es mehr oder minder Zeitlöcher.
Manuel Castells hat es übrigens „Timeless Time“ genannt. Es wird Geld für ein paar Nanosekunden „geparkt“, das dann auf der anderen Seite der Welt etwa das Hundertfache wert ist, oder was auch immer. Ich bin keine Expertin dafür und kann es nur so erklären, dass Geld aus Geld gemacht wird, mit enormen Renditen.
Inga Horny: Diese Devisengeschäfte, von denen Sie gerade sprechen, die gab es früher ja auch. Sie waren menschengemacht. Irgendwo saßen Menschen und konnten durch das Transferieren von Schilling in Yen über Nacht auch kleinere Summen gewinnen durch die Kursspekulationen.
Ursula Maier-Rabler: Genau.
Ursula Maier-Rabler: Genau.
Inga Horny: Da sind wir jetzt bei einem spannenden Thema angelangt, das man so nicht erkennt. Weil, diese Devisenspekulationen haben Menschen, die bei der Bank ein Sparbuch hatten, früher auch nicht mitbekommen. Der Gewinn war ja bei der Bank.
Ursula Maier-Rabler: Genau.
Inga Horny: Jetzt ist es aber so, dass diese Spekulationen bei der Bank, aber auch bei Anlegern landen und nicht versteuert sind. Das heißt dann im Grunde Transaktionssteuer, vor der sich der angebliche Mittelstand immer so wahnsinnig fürchtet. Dabei betrifft es ihn gar nicht.
Ursula Maier-Rabler: Richtig. Das ist so ein Thema. Das wäre eine Quelle aus der Digitalisierung einfach Volksvermögen abzuschöpfen, das wir dringend bräuchten. Sprich, dieses bekannte Thema der Finanztransaktionssteuern, die de facto 90 Prozent der Bevölkerung gar nicht merken, weil es Mikrobeträge sind, die pro Transaktion fällig werden.
Aber die großen automatisierten Algorithmen gesteuerten Broker-Plattformen, die müssten quasi ihre Gewinne über eine Transaktionssteuer abliefern. Das ist einfach ein Gebot der Stunde. Diese Transaktionssteuern sind ja auch so etwas wie Datensteuern. Es geht nicht nur um Finanztransaktionssteuern, sondern auch um die großen Serverfarmen, diese Datenkraken.
Es ist nicht nur Google, Amazon, Facebook und so weiter. Da gibt es schon einige mehr. Es würde dem Staat so viel Geld bringen. Es würde die sehr stark lohnabhängigen Steuern obsolet machen. Das hätte auch wieder etwas mit der sinkenden Lohnsteuer zu tun, weil sich eben der Anteil der Arbeitenden verändert.
Das ist derzeit wirklich wie im Wilden Westen. Da ist etwas vorhanden, was noch nicht angekommen ist in den nationalen und supranationalen Politiken.
Inga Horny: Das führt mich zurück zum Menschen und zu dem Thema Balanced Societies. Wir haben im Vorfeld über das Thema Arbeit neu denken gesprochen. Das heißt, wenn man versuchen würde, Löhne weniger zu besteuern, also die Steuern auf Arbeit zu senken, würde auch den Menschen mehr Geld bleiben.
Ursula Maier-Rabler: Ganz grundsätzlich haben wir Technologie erfunden, damit sie uns Arbeit abnimmt. Digitalisierung ist ja auch nichts anderes. Also einfach gewisse Prozesse schneller zu bewerkstelligen, damit wir das nicht händisch machen müssen.
Im Grunde war immer der Gedanke der Menschheit, Werkzeuge oder Maschinen oder sonst etwas zu erfinden, damit die Arbeit leichter oder weniger wird. Jetzt bekommen wir die große Panik, weil eben zum Teil Arbeit wirklich ersetzt wird, weniger wird, anstatt dass wir das positiv als Möglichkeit sehen und sagen: Okay, es bestünde die Möglichkeit, dass wir alle weniger arbeiten, was uns allen guttun würde.
Wenn ich alle sage, meine ich Frauen und Männer gleichermaßen. Dadurch wird die Lohnsteuer weniger. Wir könnten die Lohnsteuer überhaupt noch viel, viel mehr reduzieren.
Wenn ich nur die Hälfte arbeite und nur die Hälfte Geld bekomme, kann ich mir natürlich das Leben nicht leisten. Das heißt, es braucht einen Ersatz dafür und das ist der einer Kompensation durch andere Steuern.
Da kommen wir schon fast ein bisschen in eine Mischform des Grundeinkommens. Zu dem bedingungslosen Grundeinkommen bin ich mir noch nicht ganz schlüssig. Aber das zu koppeln an Erwerbsarbeit mit vollem Lohnausgleich und quasi über eine Transaktionssteuer zu finanzieren, da gingen wir schon in die richtige Richtung.
Es gibt Modelle, natürlich wie immer sehr stark aus dem skandinavischen Raum, die in diese Richtung gehen. Im idealen oder schönen Leben, das wir anstreben sollten, sollte man Arbeit nicht ausschließlich als Erwerbsarbeit sehen. Das ist das Erste. Man muss auch davon weggehen, Erwerbsarbeit als einziges Identifikationsmerkmal – vorwiegend der Männer – zu sehen.
Man muss schon sagen, dass sich Männer durch Erwerbsarbeit identifizieren und je mehr sie arbeiten, desto besser ist es. Ich skizziere einmal folgendes Bild:
Ein Drittel ist Erwerbsarbeit, das sind 20 bis 25 Stunden. Ein weiteres Drittel unserer Zeit ist für Familie, Freunde und soziales Leben.
Es würde sich sehr viel ändern in der Genderdebatte, wenn dieses Drittel Männern und Frauen gleichermaßen zu Verfügung stünde. Ein letztes Drittel, nenne ich zivilgesellschaftliche Arbeit. Da fallen alle Formen von Gemeinwesen bis hin zu ehrenamtlichen Tätigkeiten hinein. Das wird in unserer Gesellschaft immer wichtiger, weil es diese Leute gar nicht mehr gibt.
Ob es in der Pflege oder sonst irgendwo ist. Menschen müssen Zeit haben Leute zu besuchen, mit Leuten zu reden. Orte müssen gefunden werden, wo man abseits des Erwerbslebens miteinander Dinge machen kann. Dinge, die der Gesellschaft, der Gemeinschaft, den Familien oder auch einer persönlichen Entwicklung zugutekommen.
Wenn wir das schaffen würden – und das ließe sich mit diesen anderen Steuern finanzieren – dann könnte das zu einer, den Begriff haben Sie zuerst erwähnt, Balanced Society führen oder beitragen. Wenn es um Steuern geht, heißt es oft: Ja, jetzt kommt noch eine Steuer dazu! Ohne diese geht es nicht, aber ist doch eine völlig andere Grundlage, wie wir unser Gemeinwesen finanzieren.
Der Begriff Balanced Society kommt von Wilkinson und Pickett. Vor dreizehn Jahren haben sie ein Buch „The Spirit Level“ geschrieben. Sie weisen nach, dass gerechtere Gesellschaften, wo die Distanz zwischen Arm und Reich gering und die Möglichkeiten der Menschen, sich an ihrer Gesellschaft zu beteiligen, gerecht verteilt sind, wirtschaftlich besser performen.
Dass diese Gesellschaften stabiler sind, ein höheres Bruttoinlandsprodukt erzielen, wenn man ökonomische Maßstäbe heranzieht. Aber auf der Basis von einer gerechteren Verteilung der Chancen in einer Gesellschaft.
Inga Horny: Ich hätte mich wahrscheinlich sehr darüber gefreut, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, ein Drittel meiner Arbeit in Erziehungs- und Familienarbeit investieren zu können. Aber vielleicht bringt das ja die Zukunft.
Ursula Maier-Rabler: Ja natürlich. Es gibt Modelle, die zum Teil auch ein bisschen mit Armutsforschern oder aus der Armutsforschung entstanden sind und auch aus der Wohlfahrtsökonomie-Forschung. Ein Ansatz, mit dem ich viel arbeite, ist der Capability-Ansatz von Amartya Sen.
Sen ist ein indischstämmiger Ökonom, der in Amerika gelehrt hat und in den 80er Jahren einen Nobelpreis, den Wirtschaftsnobelpreis, für diese wohlfahrtsökonomische Theorie bekommen hat. Für ihn sind Capabilities so etwas wie Verwirklichungschancen eines Menschen.
Er sagt, dass es zu gerechteren Gesellschaften führt, wenn alle Menschen im Prinzip die gleichen Chancen haben, solche Verwirklichungsmöglichkeiten für sich zu ergreifen und so im besten Fall das Leben leben können, das sie auch leben wollen. Das geht! Natürlich ist das jetzt einfach gesagt und es gehört an ganz, ganz vielen Schrauben gedreht.
Einerseits muss ich die Menschen überhaupt in die Lage versetzen, zu erkennen, welche Optionen sie haben. Das ist sehr stark vom Elternhaus abhängig, von der sozialen Umgebung. Wir müssen eine Möglichkeit finden, dass Kinder, die bestimmte Vorstellungen haben, welche Schulen sie besuchen oder was sie studieren wollen, unterstützt werden, diese Chancen zu ergreifen und nicht zum Teil vom Elternhaus zurückgehalten werden.
Das gibt es nach wie vor, dass gesagt wird: „Ja, also, in unserer Familie gibt es das nicht. Wir wollen in unserem Ort, in unserer Gemeinde, in unserer Gruppe bleiben und die Richtung nicht verändern.“ Deshalb gibt es eine starke Bildungsspaltung. Die Chancen von Kindern, deren Eltern mehr oder minder Akademiker sind, sind natürlich wesentlich größer.
Es braucht staatliche und überstaatliche Unterstützung. Ob es Zugänge zu Kultur, zu anderen Menschen, oder Zugänge sind, um auf Ideen zu kommen.
Es geht um Zugänge zu anderen Lebensentwürfen, damit man überhaupt einmal sieht, was möglich ist. Es macht eine Stadt aus, dass in ihr viele verschiedene Lebensentwürfe existieren. Zuerst habe ich gesagt, dass die Digitalisierung ein starkes Vernetzungspotenzial hat. Allerdings, und das ist ganz wichtig – wir sollten Verschiedenes vernetzen.
Nicht Vernetzung der immer Gleichen. Genau das geschieht derzeit. Von Vernetzung reden alle, aber es vernetzen sich immer die Gleichen. Dann hat es nicht die Wirkung, als wenn man versucht hätte, unterschiedliche, die unüblichen Verdächtigen zu vernetzen.
Eine Stadt, eine Gemeinde könnte schon ein Startpunkt sein, wo man in unterschiedlichen Milieus unterschiedliche Optionen, die einem geboten werden, erfahren kann und so das erste Mal über den kleinen Sozialisationsrand hinausschauen kann.
Inga Horny: Das heißt, die Stadt sollte eine Stadt sein, in der die Verantwortlichen Möglichkeiten schaffen, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Bubbles vernetzen können. Wo es Ermöglichungsräume gibt. Wir haben es in allen Städten mit einem totalen Wandel zu tun.
Ursula Maier-Rabler: Ja, ich sehe sehr stark in diese Richtung. So wie es vor 500 Jahren die Kirchen waren, die mit viel Anstrengung gebaut wurden, um Menschen die Möglichkeit zu geben, zusammenzukommen. Dann haben sich Vereinsstrukturen entwickelt, wie wir sie kennen.
Es wurde geschaut, dass es Orte gibt, wo man zusammenkommen kann. Auch klassische Gasthäuser, die jetzt stark in Gefahr sind, waren solche Räume. Ich glaube, dass jetzt durch die gesellschaftlichen Entwicklungen, die ich kurz angesprochen habe, neue Bedürfnisse entstehen nach solchen Räumen. Diese Bedürfnisse entstehen nicht von selbst. Da muss man mithelfen.
Es wäre eine ganz wichtige Aufgabe von Kommunen, zu schauen, wie diese neuen Bedürfnisse gelagert sind. Sie entstehen durch neue Arbeit, dass Leute in anderen Arbeitssituationen sind. Auch zum Beispiel durch die Jungen, die eher kurzfristige Projektidentitäten haben. Sie brauchen die Möglichkeit, irgendwo ihre Projekte umzusetzen und dort die richtigen Leute zu finden.
Das kann das Elternhaus vielleicht nicht leisten, am Nachmittag, am Wochenende. Alle diese Bedürfnisse zusammen zu denken, zu schauen und Orte zu schaffen, wo man das machen kann.
Ich fantasiere ein bisschen von einem Zukunftsraum oder wie immer man diese Räume nennen will, die sich aus einem Potpourri von verschiedenen Ausformungen zusammensetzen können. Das ist nicht in jedem Ort gleich. Es hängt davon ab, welche Leute, welche Bedingungen es gibt.
Es sollte ein Ort sein, der einerseits Zugang zu Arbeit, also Coworking bietet, wo man aber auch Homeschooling für Schüler, Schülerinnen am Nachmittag machen kann. Etwa Coworking, Happy Labs, Blogger-Studios, Satelliten-Büros von Unternehmen, die dann sagen: „Ja, das wäre auch gut, wenn es so einen Raum gäbe. Meine Leute könnten vielleicht zwei, drei Tage in der Woche dort sein und den Rest in die Firma kommen. Dann müssen sie das nicht zu Hause in ihrer Wohnung alleine machen.“
Dies in Kombination mit Angeboten, etwa regionale Produkte, die dort in einem kleineren Markt angeschlossen sind. Vielleicht tut man sich zusammen mit den örtlichen Schulen, Kindergärten, um Kinderbetreuung zu organisieren. Zum Beispiel das Konzept der Repair Cafés. Es gibt ganz viele Möglichkeiten.
Das braucht es, auch wenn sich dann die Strickgruppe dort trifft. Die Räume müssen gut ausgestattet sein und auch gut ausschauen.
Das kann jetzt nicht irgendwo im Hinterzimmer beim Bürgermeister, in der alten Gemeindebibliothek sein. Da gehen die Jungen nicht hin. Das ist auch für Leute im Coworking nicht interessant.
Es muss cool sein, es muss gut ausgestattet sein. Das ist so etwas, man kann fast sagen, wie die neuen Kirchen. Die braucht es auch in jedem Dorf und in der Stadt in mehreren Stadtteilen. Es muss verteilt, leicht zugänglich und offen sein.
DenkwerkStadt
Inga Horny: Sie sagten, es ist nicht in jeder Stadt, in jedem Ort gleich.
Ursula Maier-Rabler: Richtig.
In vielen Orten ist es so, dass man hergeht und sagt: „Na, wir haben eine alte Kaserne und da machen wir jetzt einen Coworking hinein“ oder so. Nachher denkt man sich: Und was noch? Das ist, glaube ich, nicht der Ansatz.
Der Ansatz müsste sein, dass man zuerst die Bedürfnisse in den Gemeinden, Orten, Städten, im Dorf herausarbeitet und erst dann die richtigen Räume sucht, findet, baut. Wie muss man sich so einen Prozess vorstellen?
Ursula Maier-Rabler: Ja, völlig richtig. Es braucht einen partizipativen Beteiligungsprozess. Anders kann es nicht funktionieren. Das widerspricht natürlich vielen politischen EntscheidungsträgerInnen, weil es länger dauert und man nicht ganz genau weiß, was am Schluss herauskommt.
Jetzt passiert es manchmal so, dass das von oben herab entschieden wird: „Ah, da haben wir irgendwo eh irgendeinen Raum und da machen wir das jetzt.“ Es kann nur umgekehrt gehen. Es fängt schon einmal an, dass man in dem Ort überhaupt einmal sondiert, wen es da überhaupt gibt, der eventuell daran Interesse haben könnte? Das ist nicht so einfach.
Manchmal wissen die, die interessiert sein sollten, gar nicht, dass sie mittun könnten. Das heißt, man muss am Anfang Informationen liefern. Man muss Leute, ExpertInnen einladen. Man muss Informationen aufbereiten. Vielleicht bietet man Exkursionen an Orte an, wo man sich etwas anschauen kann. Man muss das Thema überhaupt im Ort implementieren.
Das ist ein mehrstufiger Prozess. Es wird Workshops brauchen, es wird viele Subgruppen geben, die sich dann entsprechend ihren Interessen zusammenfügen. Es braucht schon auch immer wieder Begleitung durch ArchitektInnen, die das gestalten.
Ein völlig breites Spektrum nicht von den üblichen Verdächtigen. Nicht immer nur einen Schuldirektor oder den Bürgermeister, sondern wirklich alle sollten die Möglichkeit haben, mitzutun. Es gibt mittlerweile schon gute Verfahren, wie man solche Prozesse moderiert. Aber das dauert!
Ich gehe immer davon aus, dass es fast ein Jahr dauert, bis dass man durch ist und am Schluss ein Anforderungsprofil steht. Das ist erst der Boden, auf dem man dann anfangen kann: „Aha, das soll das alles leisten.“ Und dann kommt erst: Aha, also, da können wir mit unserem kleinen Wirtshaussaal nicht arbeiten.“
Dass man etwas anderes braucht, kann auch schon Teil des Prozesses sein, Orte zu sondieren: Welche Möglichkeiten haben wir? Das ist ganz wichtig.
Sachen zutage bringen, an die man gar nicht denkt, weil man mit den Menschen in der Form bisher nicht gesprochen hat. Es kann auch eine Möglichkeit sein, Migranten und Migrantinnen mit einzubeziehen und Möglichkeiten für sie zu finden, in bestimmten Bereichen hier anzudocken. Das kann stark wirtschaftlich dominiert sein.
Es ist wichtig, dass es auch für die Wirtschaft interessant ist, aber auch für die Kultur, für soziale Interessen, für die Bildung, also für alle möglichen Aspekte eines Ortes. Und das kostet auch etwas! Das ist schon klar. So ein Prozess muss finanziert werden.
Das können viele nicht. Hier muss man anfangen, zu schauen, ob es für solche Projekte/Planungsphasen Möglichkeiten, übergeordnete Einheiten, über Land, über den Staat, aber auch über die Europäische Union gibt, die ja solche Räume fördern will. Etwa unter der Digitalisierungsoffensive oder Bildungsoffensive kann man schauen.
Dieser Prozess dorthin ist unumgänglich, sonst funktioniert es nicht. Wir kennen ja, dass irgendetwas hingestellt wird und dann ist es ein halbes Jahr total schick und dann versandet es. Diese Dinge muss man mit überlegen.
Diese berühmte Kümmerer-Debatte ist ganz wichtig. Vielleicht braucht es in Zukunft angestellte Kümmerer in Gemeinden, die sich einfach um das Thema kümmern, ja? In der Gemeinde, habe ich auch vor kurzem erfahren, werden diverse bürokratische Prozesse, Bürgerprozesse, gewisse Behördengänge durch Digitalisierung einfacher.
Vielleicht werden auch Ressourcen frei, dass die einen oder anderen GemeindemitarbeiteInnen auch für diese Aufgaben herangezogen werden können.
Inga Horny: Das führt mich jetzt zum Ende unseres Gespräches. Offensichtlich ist es so, dass gerechte Städte eine lange Weile brauchen, viel Mühe, viel Geduld, Zeit und Ressourcen. Das ist auch mit der Schönheit so!
Frau Professor, ich danke Ihnen für dieses Gespräch und ich wünsche Ihnen eine schöne Sommerpause.
Ursula Maier-Rabler: Vielen Dank. Das hat mir Spaß gemacht. Danke auch für das Gespräch und ebenfalls eine schöne Zeit.
Inga Horny: Dankeschön.
Titelbild: Inga Horny (links im Bild) im Gespräch mit Ursula Maier-Rabler (rechts im Bild).
Bilder von der DenkwerkStadt (c) Heinz Mitteregger & Simone Kocher
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