Die Soziologie von Städten – Prof. Dr. Martina Löw im Interview
24.10.2023
Trends
24.10.2023
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Im Rahmen der DenkwerkStadt von Stadtmarketing Austria sprach Mag. Inga Horny mit Prof. Dr. Martina Löw, Professorin für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin, über die Soziologie und die Zukunft von Räumen und Städten. Ein Podcast zum Nachhören und Nachlesen.
Inga Horny: Frau Doktor Löw, herzlich Willkommen zu unserer Denkwerkstadt von Startmarketing Austria im schönen Gmunden, im Salzkammergut. Schön, dass Sie von Berlin zu uns gekommen sind. Wir freuen uns sehr.
Die Denkwerkstadt ist eine Veranstaltung unseres Dachverbandes, wo wir uns intensiv mit Städten und den Funktionen von Städten beschäftigen.
Martina Löw: Schönen guten Tag und vielen Dank, dass ich hier sein darf. Es ist wirklich sehr interessant, hier auf der Denkwerkstadt zu sein. Ich leite einen Sonderforschungsbereich, der das Thema „die Refiguration von Räumen“ bearbeitet.
Wir beschäftigen uns damit, wie sich Räume angesichts von neuen Entwicklungen wie Digitalisierung und Globalisierung verändern. Wir forschen weltweit. Das sind im Moment 18 verschiedene Forschungsprojekte aus unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit diesen aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen.
Inga Horny: Das ist für uns sehr spannend. In Österreich gibt es so ein Forschungsprojekt nicht. Offensichtlich sind wir noch nicht so weit, dass wir die Bedeutung der Entwicklung der Städte so in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung rücken. Insofern finde ich dieses Projekt spannend.
Martina Löw: Sehr gerne! Das ist tatsächlich eine unserer Grundkonzeptionen im Sonderforschungsbereich. Genauer gesagt, es ist ein wesentliches Ergebnis unserer Arbeit. Der Sonderforschungsbereich ist auf zwölf Jahre angelegt. Nach jeweils vier Jahren wird evaluiert, ob wir weitermachen dürfen.
Am Ende der ersten vier Jahre sind wir zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die verschiedenen Studien darüber, wie Menschen Räume erfahren, wie sie Räume konstituieren, wie sie Räume einrichten, so zusammenfassen lassen, dass wir vier Grundfiguren unterscheiden können. Wobei das selbst eine Neuerung ist.
Das 20. Jahrhundert war sehr davon geprägt, dass unser Denken, aber auch unsere Fantasien von Raum sich im Rahmen einer Behälterraumvorstellung bewegt haben. Wir nennen das auch die territoriale Raumfigur, weil sie sich an die Idee anlehnt, dass wir Räume schließen können und dass insbesondere nationalstaatliche Organisationsformen ganz zentral wurden für die Art, wie wir die Politik organisieren, aber auch, wie wir Wirtschaft organisiert haben.
Dass wir überhaupt über Wirtschaft in Form von Volkswirtschaft nachgedacht haben, zeigt schon sehr gut, wie wichtig diese territoriale Raumfigur war. Im 20. Jahrhundert war es so, dass man Menschen auf der Straße nach ihrer Idee von Raum fragen konnte und man bekam eine Beschreibung von Raum, die sehr containerförmig war.
Als Box, als umgebender Raum. Das ist aufgebrochen! Diese Hegemonie des territorialen Raums hat sich, ich würde sagen, vor allem durch die Erfahrung der Digitalisierung, aber natürlich auch durch die Globalisierung der Welt, verändert. Die hegemoniale Stellung ist verloren gegangen und wir leben heute mit vier verschiedenen gleichzeitig wirksamen Raumfiguren.
Die anderen drei Figuren sind der Bahnenraum, der Ortsraum und der Netzwerkraum.
Ich denke, der Netzwerkraum ist uns besonders vertraut, insofern wir ja durch das Internet diese Raumfigur in gewisser Weise spüren und sehr alltäglich leben können. Heute gibt es viele netzwerkförmige Organisationen. Das ist genauso der Flugverkehr wie die sozialen Medien. Aber auch in der Kindheit sehen wir Momente, dass Kinder ihre Räume heute sehr netzwerkförmig erfahren. Wir sprechen da von „verinselter Kindheit“.
Ungewöhnlicher ist der Bahnenraum. Darunter fassen wir alle Raumformen, die auf Mobilität angelegt sind. Wo nicht das Verweilen an einem Ort oder Begrenzung relevant ist, sondern das Durchqueren. Zum Beispiel Straßenräume, aber auch die Routen, die Schiffe hinter sich legen.
Und schließlich der Ortsraum. Das ist auch insofern ein komplizierter Raum, weil das die hegemoniale Raumfigur im europäischen Mittelalter war.
Sie wurde von dem territorialen Raum abgelöst und nun sind Orte wieder sehr wichtig. Wir denken, durch die Erfahrung des Netzwerkes als alltägliche Erfahrung ist es zu einer Gegenreaktion gekommen, die jetzt Orte wieder betont.
Sie muss eine Marke haben, wir wollen sie herausheben. Der Ortsraum ist wieder sehr in unser Bewusstsein gedrungen. Aber eben als eine Raumfigur neben den drei anderen.
Inga Horny: Ich empfand diese These Ihrer Raumfiguren sehr spannend, weil sie mir Erkenntnis darüber gaben, wo die Konflikte, die wir täglich in den Städten in unserer Arbeit erleben, auch ihren Ursprung haben könnten.
Wir erleben Menschen, die offensichtlich noch sehr stark im Containerraum oder nationalstaatlichem Raum verhaftet sind. Die treffen auf Menschen, die schon viel stärker im Netzwerkraum leben. Dort entstehen Konflikte, die etwas mit Ausgrenzung und Eingrenzung zu tun haben.
Auf der anderen Seite erleben wir aber auch ganz banal Menschen, die verhaftet sind im Bahnraum und die dem Auto einen Vorrang geben. Wenn man jetzt vorschlägt, den Bahnraum zu reduzieren im Hinblick auf einen Netzwerk- oder einen Ortsraum, dann entsteht Widerstand.
Martina Löw: Das ist ein wichtiges Thema, das Sie ansprechen. In den Studien über Städte merken wir, wie stark der Konflikt von Bahnraum und Ortsraum die Städte strukturiert und Menschengruppen spaltet.
In vielen Städten kann man es praktisch erleben. Da gibt es große Straßentrassen, die den zentralen Orten in gewisser Weise die Show stehlen. Die sind wie in Konkurrenz zu diesen Orten!
Man mag nicht mehr verweilen, weil der Verkehr zu sehr belastet! Umgekehrt drängen diejenigen, die den Bahnenraum besonders wichtig nehmen, darauf, dass ungehinderte Mobilität möglich sein muss. Dass man nicht im Stau stehen, dass man von einem Ort zum anderen kommen muss.
Es gibt tatsächlich Menschen, die sich viel stärker mit dem Bahnraum identifizieren, und Menschen, die sich mit dem Ortsraum identifizieren. Oft wäre es notwendig, dass man einen Kompromiss findet. Eine von beiden Raumfiguren müsste in den Hintergrund treten. Aber das ist unmöglich, weil jeweils eine Gruppe so sehr für die eine oder andere Raumfigur kämpft.
Und wir sprechen nicht über Räume, sondern wir beschimpfen uns dafür, dass wir etwa ökologisch unverantwortlich handeln. Aber wir reden nicht über diese tiefe, auch in der Kindheit angeeignete Raumerfahrung, die uns dazu bringt, das eine oder andere prioritär zu setzen.
Es würde uns tatsächlich helfen, wenn wir uns stärker klar machen, dass viele Konflikte auch Konflikte über Raumfiguren sind.
Ich würde zum Beispiel sagen, Migrationskonflikte sind ganz stark Konflikte zwischen Bahnenräumen auf der einen Seite, die Migrationsrouten öffnen, und auf der anderen Seite Territorialräumen, die diese schließen. Das Internet selbst ist voller Kämpfe. Territorialisiert man das Internet, dürfen Staaten auch bestimmte Adressen ausschließen oder soll es ein offenes Netzwerk bleiben?
Wir erleben im Alltag ganz viele Konflikte, die diese räumliche Strukturierung haben. Ich glaube, wir würden friedlicher zusammenleben auf der einen Seite und Städte kreativer weiterentwickeln, wenn wir mehr über diese Raumfiguren nachdenken würden.
Inga Horny: Sie haben in Ihrem Vortrag auch ein Beispiel gebracht über ein Bürgerlabor, in dem Sie mit BürgerInnen und mit SchülerInnen über diese Raumfiguren und Ihre Vorstellungen in unterschiedlichen Formen diskutieren oder arbeiten.
Martina Löw: Wenn man über die Zukunft der Städte nachdenkt, ist es oft hilfreich, dass man mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommt. Weil das ist die Generation, die mit den Strukturen, die wir heute legen, leben muss.
Kinder und Jugendliche erreicht man sehr einfach. Man muss ja nur in die Schulen gehen. Man kann mit Lehrern und Lehrerinnen kooperieren und kann sie bitten, dass die Kinder Aufsätze, Essays schreiben zu der Frage, wie wird meine Stadt an meinem 18. Geburtstag aussehen.
Dann kann man a) sehr viel lernen darüber, was die Kinder für Sorgen in Bezug auf Städte haben. Wie sie ihren Alltag in den Städten erleben. Man kann ins Gespräch kommen und fragen, was wünscht ihr euch, worauf wir mehr achten?
Wir haben das in der Stadt Mannheim gemacht und konnten dabei lernen, wie sehr Kinder sich darum sorgen, dass es immer weniger Grünflächen in der Stadt gibt. Dass die Stadt hässlicher wird!
Das hat niemand vorher erwartet in der Stadt! Dass das vielleicht etwas sein könnte, was Bindung an Mannheim schafft. Insofern glaube ich schon, dass wir über diese Art von Bürgerlabors wirklich lernen können, wie sich eine Stadt weiterentwickeln kann.
Mir ist aber auch wichtig zu betonen, dass das, wie die Stadt sich weiterentwickelt, immer spezifisch sein muss, weil Städte unterscheiden sich, Städte entwickeln Eigenlogiken. Das sind dann historisch gewachsene Routinen und Wissensbestände vor Ort, die in der Stadt einen bestimmten Weg vorgeben.
Man kann eine Stadt nur weiterentwickeln, wenn man versteht, wie sie tickt. Wenn man versteht, was die spezifischen Probleme dieser Stadt sind.
Es gibt Städte, die das gar nicht besonders beachten und Städte, die das ganz wichtig finden. Aber die, die es wichtig finden, suchen dann auch nach unterschiedlichen Möglichkeiten, den Klimawandel vor Ort zu gestalten.
Ich finde es wichtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie der Seelenzustand einer Stadt ist. Was ist das spezifische Problem vor Ort und welche Lösungsstrategien sind im Kontext dieser Stadt möglich? Dazu ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ganz wichtig.
Inga Horny: Sie haben diese wunderbare Überleitung geschafft zu dem zweiten Thema „Eigenlogik der Städte“.
Ich möchte da nochmal kurz einhaken. Es ist nämlich ein Thema, für uns, die wir im Stadtmarketing oder in der Raumplanung arbeiten, zu erkennen, dass Städte eigene Identitäten haben. Dass man Identitäten nicht überlagern kann.
Martina Löw: Es geht darum zu verstehen, was in einer Stadt selbstverständlich geworden ist, und zwar an Weltsichten. Ich denke zum Beispiel, ein Problem ist in meiner Stadt jederzeit lösbar. Oder denke ich, die Welt lässt sich eh nicht ändern und ich muss halt einfach damit leben, dass das Problem existiert?
Um zu erkennen, was es für Weltsichten gibt, bietet sich an, dass man a) versucht, mit sehr unterschiedlichen Personengruppen in der Stadt ins Gespräch zu kommen. Es bietet sich an, zu zentralen Veranstaltungen zu gehen, Kirmes, Neujahrsansprache, wo die Stadt sich ihrer selbst vergewissert. Da geht es oft darum, in Szene zu setzen, was wir vor Ort sind. Da kritisch hinzugucken, was ist das, was in Szene gesetzt wird?
Es bietet sich an, dass man b) mit Aufsätzen von Jugendlichen arbeitet, die ich eben beschrieben habe.
Aber es geht eben nicht nur um Weltsichten! Es geht auch um das, was sich in unseren Alltag eingeschrieben hat! Die Routinen.
Welche Art von Haustyp, welche Enge und Weite der Straßen, welche Symbolik? In Bremerhaven gibt es sehr viele Häuser, die als Schiffe gebaut werden. Was wird damit ausgedrückt? Schiffe bleiben nicht, Schiffe fahren weg.
Warum gestalte ich meine Stadt mit Häusern, die so aussehen, als könnten sie jederzeit wegschwimmen und dergleichen?
Können wir kurz mal innehalten, indem wir kritische Raumanalysen machen und fragen, ist es das, was wir wollen? Gibt es die Möglichkeit, vielleicht an der einen oder anderen Stelle zu experimentieren, Interventionen zu schaffen, die Stadt zu vervielfältigen?
Wenn wir davon ausgehen, dass Städte so etwas haben, was man bei Menschen Identität nennen würde, also eben eine eigene Logik des Ortes, die historisch gewachsen ist und deswegen auch Zukunftsressourcen bereithält, dann ist es gleichzeitig so, dass diese Stadt nicht einfach nur eine Marke braucht.
Sondern die Stadt hat viele Ausdrucksformen und diese vielen Ausdrucksformen können im Stadtmarketing auch sichtbar gemacht werden. Bei Menschen würde man sagen, wir nehmen unterschiedliche Rollen ein. Wir sind manchmal Mutter und manchmal Tochter, manchmal berufstätig und manchmal im Freizeitmodus.
Die Stadt hat auch vielfältige Ausdrucksformen. Und das macht Identität aus. Identität ist gerade nicht das eine, sondern das Vielfältige, was zusammengeht.
Und dafür wirklich eine, ja, eine geschickte stadtpolitische, gesellschaftliche, ästhetische Form der Zukunftsgestaltung zu finden, das ist die Herausforderung, mit der wir umgehen müssen. Aber es ist eben auch die große Chance, Städte trotz gravierender gesellschaftlicher Veränderungen weiter in Wert zu setzen.
Inga Horny: Ja, da bin ich Ihnen sehr dankbar für diese Analyse, weil dieser Gedanke der Identität von Städten mich schon seit, etwa 20 Jahren umtreibt. Ein wunderbares „fast“ Schlusswort.
Martina Löw: Das ist eine schöne Frage. Weil es ist ja wichtig, dass man das Gefühl hat, man erkennt die Orte, die einem wichtig sind, auch an insbesondere der baulich-räumlichen Struktur. Ich erkenne Berlin an der Spree, die die Stadt durchzieht als ein Bahnraum.
Neben der Spree ist der Tiergarten, also ein territorialer Raum, der ausnahmsweise mal mit dem Bahnraum nicht in Konflikt steht, sondern positiv ergänzt.
Und angrenzend an den Tiergarten ist Schloss Bellevue als Ausdruck des Politischen, eines politischen Zentrums, dann ganz in der Nähe das Regierungsviertel. Und wenn ich diese Konstellation sehe, dann weiß ich, ich bin wieder in Berlin.
Inga Horny: Frau Doktor Löw, vielen Dank für diese Inspiration hier im schönen Salzkammergut. Ich wünsche Ihnen alles Gute und ich hoffe, dass wir uns bald wieder bei einer DenkwerkStadt sehen. Vielen Dank.
Martina Löw: Ganz herzlichen Dank auch von meiner Seite. Es war wirklich wunderbar bei Ihnen.
Titelbild: Inga Horny im Gespräch mit Dr. Martina Löw über die Soziologie von Städten
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