Es gibt sie in jeder Stadt und jeder Region: Verlassene und verfallene Orte. Das Interesse, sie zu erkunden, wird stärker und passiert oft illegal. Dabei hätten Lost Places – bei kluger Planung – großes Potenzial für eine nachhaltige Nutzung.
Es gibt sie in jeder Stadt und jeder Region: Verlassene und verfallene Orte. Das Interesse, sie zu erkunden, wird stärker und passiert oft illegal. Dabei hätten Lost Places – bei kluger Planung – großes Potenzial für eine nachhaltige Nutzung.
Wieder einmal hat Corona einen Trend beschleunigt, der sich schon lange vorher abgezeichnet hat. Die Erkundung von Lost Places wurde in den Zeiten harter Lockdowns zu einem Freizeitvergnügen der Massen. Wenn alles zu hat und die Spazierrunde durchs Viertel fad wird, geht man irgendwann auf Entdeckertour durch alte, verlassene Gemäuer in der näheren Umgebung.
Früher war diese Freizeitgestaltung jenen vorbehalten, die sich dezidiert der Gruppe von „Urban Explorers“ – kurz: Urbexern – zugehörig fühlten. In Corona wurden derlei Touren auf eigene Faust zum Massenphänomen.
Faszination des Verfalls
Wobei: Die Faszination am Verfallenen, Morbiden ist keinesfalls neu. Und deren professionelle Vermarktung schon gar nicht. Ganze Städte und Regionen leben gut davon. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die verlassene und langsam überwucherte Katastrophenstadt Tschernobyl mittlerweile über 50.000 Touristen im Jahr anlockt?
Dass die Wild-West-Geisterstädte in Kalifornien in jeden 08/15-Reiseführer Eingang gefunden haben? Von den schaurigsten und bekanntesten Dark-Tourism-Orten der Welt – Stichwort: Auschwitz, Pompeij, Ground Zero – mal ganz zu schweigen…
Lost Places-Touren: Best Practice in Berlin
Berlin ist aufgrund seiner Geschichte eine Stadt mit vielen reizvollen verlassenen Ecken. Das Gebiet wird bereits erfolgreich beackert. Seit elf Jahren bietet die Agentur „go2know“ hier Lost Places-Fototouren an und hat damit in dem Segment eine Benchmark im deutschsprachigen Raum geschaffen. Verlassene Krankenhäuser, Psychiatrien, Hotels und Fabriken können im Rahmen geführter Touren erkundet und fotografiert werden.
Die Eigentümer ins Boot geholt
Die rechtlich heiklen Fragen – wer darf was betreten, wer haftet bei Unfällen oder Schäden – sind hier klug gelöst und mehrfach abgesichert. Thilo Wiebers von go2know erzählt: „Wir mieten die Locations von den Eigentümern an und übernehmen dabei vertraglich die Haftung für Teilnehmer und Mitarbeiter.
Vor der Tour erhalten alle Teilnehmer eine Sicherheitsbelehrung und Einweisung. Zusätzlich verteilen wir Gelände- und Gebäudepläne, in dem gesperrte Bereiche eingezeichnet sind. Vor jeder Tour gibt’s eine Sicherheitsbegehung. So sind alle optimal auf die Tour vorbereitet.“
Die Teilnehmer ihrerseits gehen auf eigene Gefahr mit und stimmen einem Haftungsverzicht zu. Zusätzlich hat die Agentur auch noch eine Versicherung für Personen- und Sachschäden, die allerdings in den ganzen elf Jahren noch nie in Anspruch genommen werden musste.
Win-Win-Situation
Seine Klientel beschreibt Wiebers so: „Unsere Teilnehmer sind abenteuerlustige Hobbyfotografen. Sie wollen die Ästhetik historischer und verlassener Orte einfangen, aber auch über das pure Motiv hinausblicken. Was war hier mal los? Was ist hier geschehen?“
Hinzu komme die wachsende Gruppe der Freizeitentdecker. Sie wollen ihre Region umfassend erkunden, suchen das Ungewöhnliche und möchten nebenbei ein paar schöne Schnappschüsse mitnehmen, um sie später zu posten.
Die geführten Touren können auch den Besitzern der Lost Places nutzen. Wiebers: „Die Locationmieten, die sie dadurch erwirtschaften, werden zumindest zum Teil direkt für die Sicherung der Gebäude eingesetzt.“
Weiters erkennen die Eigentümer dadurch auch, das sich Projektentwicklung lohnt. So kommt es nicht selten zu temporären, meist kulturellen Zwischennutzungen ihrer Objekte in Form von Kunstfestivals oder Ausstellungen.
Touren stoppen Illegalität
Letztlich könnte die offensive Vermarktung von Lost Places eventuell auch die Gruppe der Urban Explorers – die trotz Verbotstafeln in Gebäude einsteigen um Fotos und Videos zu machen – hintanhalten.
Im Interview mit einem dieser Urbexer (Name der Red. bekannt) stellt dieser klar: „Eine geführte Tour mitzumachen kann ich mir zwar vorstellen, das hätte aber sicher nicht denselben Reiz. Urbexen heißt für mich, weitgehend unberührte verlassene Orte aufzuspüren und einen echten Nervenkitzel zu haben, wenn man irgendwo ohne jede Einladung einsteigt.“ Ein Ort, wo Gruppen durchgeführt werden, verliert diesen Reiz wohl automatisch.
Obwohl die Urbexer-Community zwar oft illegal agiert und Verbote umgeht, ist sie per se weder destruktiv noch ignorant. Unser Interview-Gast betont den Ehrencodex, auf dem sich die Szene verständigt hat: „Echte Urbexer brechen nicht ein, sondern suchen nach einem Schlupfloch. Sie zerstören und verändern nichts. Alles was sie mitnehmen, sind Fotos. Alles was sie dalassen, sind Fußspuren.“
Lost Places-Touren abseits der Großstadt
Zurück zum Vermarktungspotenzial für Städte: Go2know macht also vor, wie man die Lost Places einer Stadt oder einer Region in eine sichere und legale Nutzung bringen kann. Aber ist dieses Feld denn auf Großstädte – auch etwa in London gibt’s schon ein breites Angebotsspektrum – limitiert?
Junge, urbane Zielgruppe
Mitnichten, denn auch kleinere Städte und Regionen haben das Lost-Place-Thema bereits für sich entdeckt. Am Wörthersee etwa gibt es seit heuer das Angebot „Gravelbiken und Lost-Place-Discoveries“. Das sind individuelle Tourenvorschläge zu verlassenen Orten in der ganzen Region wie einsame Kirchen, alten Mühlen oder Bahnhöfen.
Die Touren sind auf der Tourismus-Webseite abrufbar. Die Expertise lieferten ein ehemaliger Radprofi sowie die Autoren eines regionalen Lost-Place-Sachbuches. Wörthersee Tourismus-Chef Roland Sint freut sich über die Erschließung neuer Potenziale: „Das Trendthema Gravelbike in Kombination mit den Lost Places ermöglich uns den Zugang zu einer spannenden neuen Community aus dem urbanen Bereich.“
Vor jedem Betreten wird allerdings ganz allgemein per Disclaimer gewarnt, der da lautet: „Generell gilt, dass die Lost Places nicht betreten werden dürfen, da diese nicht abgesichert sind und keine Haftung bei Einsturz oder für Unfälle übernommen wird. Die historischen Gemäuer, Stollen oder Naturdenkmäler o.Ä. sind (sofern nicht als Ausflugsziel deklariert) nicht zur Besichtigung freigegeben.“ Als Gravelbiker solle man nur Schnappschüsse „aus der Ferne“ nehmen.
Geheimnisvolles in der Nähe
Anderes Beispiel mitsamt der Lizenz zum Betreten: Im oststeirischen Anger, unweit der Stadt Weiz, gibt es seit kurzem eine „Lost Places-Tour“ zu zwei touristisch neu erschlossenen Orten – die Burgruine Waxenegg, die in Zusammenarbeit mit der Gemeinde soweit abgesichert werden konnte, dass rechtlich keine Graubereiche beim Betreten mehr klaffen. Und das Rauchstubenhaus aus dem 17. Jahrhundert, das bisher nicht offensiv für Gäste vermarktet wurde.
Entstanden ist diese Tour im Rahmen des EU-Leader-Projekts Slow Trips. Projektmitarbeiter Wolfgang Werger erläutert: „Viele kleine Regionen in ganz Europa stehen vor der gleichen Situation. Urlaub in der Nähe hat Auftrieb bekommen, man sucht nach Exotik und Geheimnissen vor der Haustür. Dafür wollen Slow Trips ein Angebot schaffen.“
Der ersten Lost Places-Tour in der Oststeiermark sollen weitere folgen, vor allem die vielen kleinen, stillgelegten Bahnhöfe der Region bieten sich dafür an. Werger: „Noch sind wir in der Startphase. Aber es gibt etliche Ideen zum Thema Lost Places, die wir verwirklichen möchten.“
Lost Places leben von Geschichten
Manchmal geht’s weniger um eindrucksvolle Orte als vielmehr um ihre Geschichten. Die muss halt jemand kennen. So war das bei Gernot Schafferhofer, einem Genealogen aus Fischbach, der bei seinen Recherchen viele Geschichten über die verfallenen Höfe des Jogllands ausgehoben hat.
Auf den Wanderwegen der Region kommt man immer wieder an ihren Ruinen und Mauerresten vorbei. Wenn Zeit bleibt, wandert Schafferhofer sie ab und kann dabei viele Infos und Anekdoten zu den Orten preisgeben. Auf Anfrage nimmt er Gäste mit.
Meist sind das Einheimische, „man kann das aber sicher auch so aufbauen, dass es für Touristen spannend ist. Ich denke überhaupt, dass sich viele verlassene Orte, sofern man ihre Geschichten beleuchtet, touristisch gut vermarkten lassen würden“, sagt er.
Vorträge, Bücher, Ausstellungen
Zu guter Letzt können wir Wien beim Thema „Lost Places“ freilich nicht ausklammern. Für verlassene Orte hat hier das Forscherteam Wiener Unterwelten die Expertise, bestehend aus Fotograf Lukas Arnold und Archäologe Marcello La Speranza.
Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, den vorhandenen Bestand zu dokumentieren und zu fotografieren, bevor die Bagger anrollen. Führungen gibt’s derweil nur für Medien, die Presse scheint das Thema zu lieben.
Lukas Arnold: „Besuchertouren bieten wir nicht an, allerdings machen wir regelmäßig Vorträge zu eindrucksvollen Lost Places. Und wir haben schon zwei Bücher zum Thema gemacht.“ Ende September folgt eine Ausstellung zu „Abandoned Places“ in Wien. So werden Lost Places auch kulturell nutzbar.
Die Faszination von Lost Places: Ein Urbexer erzählt
Unter dem Namen Occulus tritt eine Gruppe von drei Personen (Instagram-Profile: Mocculexe, Mocculus und Mocculaxmax) in der österreichischen Urbex-Szene auf. Einer von ihnen hat uns diesen Text überlassen und lässt uns an seiner Leidenschaft und seinen Erlebnissen beim Urbexen teilhaben:
Urbex Exploring – Eine Leidenschaft für Erzählung und Bewahrung
Unter Urbex Exploring wird per Definition die Erkundung von Einrichtungen des städtischen Raums sowie von Lost Places verstanden. Doch diese Beschreibung wird der Leidenschaft echter Urbexer in keiner Weise gerecht, denn es geht um so viel mehr als um reine Neugier oder die Jagd nach morbiden, mystischen oder den Verfall dokumentierenden Fotos.
Lostplacen, wie wir es nennen, beginnt bereits mit der Recherche von verlassenen und geschichtsträchtigen Orten. Schon hier zeigt sich, wer den Urbex-Gedanken wirklich lebt, denn die Suche nach geeigneten Lost Places ist mitunter eine langwierige und anstrengende Angelegenheit. Es gilt, Orte zu finden, die nicht allgemein bekannt sind und eine Besonderheit aufweisen.
Diese Besonderheit kann eine noch eingerichtete Villa sein, die bereits seit Jahren versteckt vor neugierigen Blicken ihr Dasein fristet und nur darauf wartet, ihre Geschichte erzählen zu können. Oder Krankenhäuser, die scheinbar plötzlich verlassen und von den ehemaligen Mitarbeitern vergessen wurden. Auch Hotels, die vor langer Zeit von unzähligen Menschen besucht und dann sich selbst überlassen wurden, ziehen wahre Urbexer an. Reine Ruinen, die quasi als Bauskelette an ihre einstige Funktion erinnern, sind selten Anziehungspunkte.
Urbexen ist mehr als eine Fotojagd
Schon beim Betreten eines Lost Places macht sich Demut breit. Beim Schritt über die Schwelle findet man sich im intimsten Bereich von fremden Menschen wieder. Es ist ein Spaziergang durch Erinnerungen und Emotionen, die einem selbst fremd sind und doch greifbar und erlebbar werden.
In manchen verlassenen Villen befindet sich das Geschirr in den Küchenschränken, die Kleidung wartet in den Kästen darauf getragen zu werden. Bilder der früheren Bewohner an den Wänden berichten von dem Leben, das in den Räumen herrschte. Medikamente auf dem Nachtkästchen zeugen von Krankheit, Befunde von Schmerz und Trauer. Kinderwägen, Spielzeug und Kuscheltiere lassen das Lachen, das in den Gängen der Villen zu hören war, wieder aufleben.
Die Natur holt sich indes gnadenlos zurück, was immer schon ihr gehörte. Feuchtigkeit und Schimmel lösen die aufwendigen und kostspieligen Wandmalereien Stück für Stück ab, während Stofffetzen im Wind wehen, die an prachtvolle Vorhänge erinnern. Gewaltige Marmortreppen und mit Moos bewachsene Statuen trotzen derweil der Zerstörung und ragen wie Mahnmale aus der trostlosen Umgebung.
Bei den Fotos geht es darum, die Prachtbauwerke, Hotels, Krankenhäuser und viele weitere Bauten in Erinnerung zu halten. Zu zeigen, wie viel Liebe, Trauer und Freude in ihnen Heimat gefunden und welche Umstände dazu geführt haben, dass diese Bauten von einen Tag auf den anderen nutzlos wurden.
Bevor wir einen Lost Place betreten, recherchieren wir die Geschichte und versuchen uns schon von zu Hause aus mit der Location auseinanderzusetzen. Doch erst vor Ort entsteht eine starke Verbindung, die wir in unseren Fotos einzufangen versuchen. Meist hinterlassen die Häuser einen bleibenden Eindruck, der uns auch nach der Rückkehr zu weiteren Recherchen veranlasst.
Viele der Orte fesseln uns und lassen uns auch nach Jahren nicht mehr los. So wie das Casa degli Spiriti in Italien, das in diesem Moment einsam und versteckt im Wald seine Geschichte hütet. Mit eigener Kirche im Garten und den Autos der ehemaligen Bewohner in der Garage. Und das schon seit mehreren Jahrzehnten.
Leave nothing but footprints – Take nothing but pictures
Der wichtigste Ehrencodex aller Urban Explorer lautet „Leave nothing but footprints – Take nothing but pictures“. Uns ist die Illegalität bewusst, doch der Drang die Seelen der verlassenen Gebäude zu ehren und zu bewahren ist stärker als jedes Warnschild. Es gibt jedoch unüberwindbare Grenzen, die strikt eingehalten werden.
Ist ein Lost Place verschlossen, bleiben das Innere und seine Geheimnisse für uns unerreichbar. Wir respektieren die Lost Places und fügen ihnen keinerlei Schaden zu. Aufgebrochen wird nichts. Nur, wenn es einen vorhandenen Zugang gibt, fühlen wir uns eingeladen.
Wir verändern im Inneren nichts, nehmen nichts mit, zerstören nichts und hinterlassen einzig und allein unsere Fußspuren. Mitgenommen werden Fotos und Erinnerungen, die wir gerne in den Sozialen Medien mit anderen Interessierten teilen. Standorte werden jedoch nie preisgegeben, um die Gebäude vor Vandalen und Möchtegern-Urbexern zu schützen.
Touristische Nutzung von Lost Places
Dark-Tourism – ein Schlagwort der Tourismusszene, die nach neuen Märkten sucht, um ihr Portfolio zu erweitern. Legitim und für uns völlig in Ordnung, obwohl es dem Grundgedanken von Urbex Exploring nicht gerecht wird. Touren durch Lost Places führen dazu, die Orte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und vielleicht auch dazu, den ein oder anderen Hobbyfotografen mit der Leidenschaft anzustecken und sich im Anschluss intensiver mit der Szene zu beschäftigen.
Für uns kommen solche Touren jedoch nicht in Frage, da wir die Recherche lieben, wir uns mit den Orten auseinandersetzen möchten und Locations suchen, die nicht allgemein bekannt sind. Orte, die uns ihre Geschichten erzählen, wenn wir ganz alleine durch die Gänge und Räume wandeln und wir ungestört zuhören können.
Wo wir Zeit haben, mit den Fotos das einzufangen, was das jeweilige Haus uns zeigen möchte. Bei geführten Touren mit mehreren Personen und möglicherweise unter Zeitdruck ist das nicht möglich.
Fazit
Verlassene und verfallene Orte üben eine große Faszination aus und das Interesse, solche Orte auch in unmittelbarer Umgebung zu entdecken, wurde in den Coronamonaten neu befeuert. Insofern können Lost Places ein spannendes neues Feld für eine touristische Vermarktung darstellen, sofern man Haftungsfragen für eventuelle Schadensfälle vorab klären kann.
Allerdings ist die Zielgruppe dafür kaum bei den bereits passionierten Urbexern zu finden, denn sie suchen per se das individuelle und möglichst unberührte Lost Place-Erlebnis. Eher geht es wahrscheinlich um die Erschließung jener an Geheimtipps interessierten Zielgruppen, die ein grundsätzliches Interesse an Historie, Atmosphäre und Fototauglichkeit eines Ortes mitbringen, diesen aber nicht illegal, sondern im Rahmen geführter Touren entdecken wollen.
Vor allem: Lost Places müssen nicht immer streng als Industrieruinen oder alte militärische Anlagen definiert werden. Insofern verfügt wohl jede Stadt, jede Region über etliche solcher Orte, die es wert wären, sie zu inszenieren und ihre Geschichte zu erzählen.
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