Zwischen Krise & Neuanfang: Wie können wir die Welt neu erzählen?
03.12.2024
Gesellschaft
03.12.2024
Gesellschaft
Bei der Denkwerkstadt 2024 in Gmunden sprach Vorstandsmitglied Edgar Eller mit der deutschen Philosophin Ariadne von Schirach über die vielschichtige Krise unserer Zeit – eine Krise der Beziehungen, der Wahrnehmung und des Umgangs mit unseren Schöpfungen. Wie finden wir inmitten dieser Herausforderungen neue Geschichten, die uns Sinn und Orientierung geben?
Hier finden Sie das vollständige Interview zum Nachlesen.
Es kann auch als Audio-Interview auf unserem Podcastkanal „Urban Insights“ nachgehört werden (Folgentitel: „Zwischen Krise & Neuanfang: Ariadne Schirach und die Frage, wie wir die Welt neu erzählen können.“)
Edgar Eller: Ariadne, schön, dass du hier bist. Vielen Dank für deine Zeit. Ich möchte heute mit dir über etwas sprechen, das uns alle beschäftigt – die Krise. Oder genauer gesagt darüber, wie wir auf Krisen blicken und mit ihnen umgehen. Wir hören ja oft, dass eine Krise die nächste jagt. Manche sprechen sogar von einer Omnikrise, also einer großen Krise, die alle anderen verbindet. Wie empfindest du die aktuelle Situation? Würdest du sie als krisenhaft bezeichnen, und wenn ja, woran machst du das fest?
Ariadne von Schirach: Hallo Edgar, ich freue mich, hier zu sein. Und ja, ich liebe es tatsächlich, über Krisen zu sprechen. Ich habe einmal ein Buch mit den Worten begonnen: Es gibt ein Unbehagen. Und ich glaube, genau dort befinden wir uns immer noch.
Wenn wir über die Krise sprechen, müssen wir uns eine doppelte Wahrnehmung vor Augen führen. Auf der einen Seite sitzen wir hier am Traunsee, an einem friedlichen Herbstmorgen. Die Natur wirkt ruhig und unberührt – die Schwäne gleiten über das Wasser, es gibt keine unmittelbare Bedrohung. Gleichzeitig haben viele von uns das Gefühl, dass die Welt brennt.
Diese Gleichzeitigkeit von Normalität und Krise ist ein guter Ausgangspunkt für unser Gespräch. Viele Menschen empfinden ihre alltägliche Normalität als intakt. Doch gleichzeitig spüren sie, dass etwas nicht mehr stimmt, dass alles aus der Balance gerät.
Wenn wir von Krise sprechen, sprechen wir im Grunde von einer Zuspitzung, von einem Wendepunkt, an dem Entscheidungen notwendig werden. Und ich glaube, genau das erleben wir aktuell: eine Krise der Beziehungen. Es knirscht im Verhältnis zu uns selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und sogar zu den Dingen, die wir geschaffen haben.
Wir haben lebendige, wechselseitige Beziehungen in reine Ausbeutungsbeziehungen verwandelt. Die Natur ist für uns nur noch Ressource, Tiere sind Futter oder Zootiere, und andere Menschen werden oft danach bewertet, ob sie uns nützen. Es ist nichts Schlechtes daran, an sich selbst zu denken – aber es ist elend, nur an sich selbst zu denken.
Ich sehe drei Achsen dieser Krise:
Wir erleben weltweit soziale Spannungen, die sich in ihrer extremsten Form im Krieg zeigen. Der Krieg in der Ukraine und die Konflikte im Nahen Osten sind nur zwei Beispiele. Auch wenn wir hier in Mitteleuropa relativ sicher sind, spüren wir die latente Bedrohung.
Dazu kommt eine zunehmende Ungleichheit: Menschen, die von Kapital leben können, stehen denen gegenüber, die von ihrer Arbeit leben müssen – und deren Löhne steigen längst nicht so schnell wie die Lebenshaltungskosten. Gerade junge Menschen leiden darunter.
Parallel sehen wir ein Wiederaufleben von Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Queerfeindlichkeit. In den USA werden Abtreibungsrechte eingeschränkt, und traditionelle Geschlechterrollen erleben eine Renaissance. Diese Entwicklungen machen das Zusammenleben fragil und belasten die Gesellschaft.
Der Klimawandel ist, wenn man so will, die Antwort der Natur auf unsere Missachtung. Wir haben lange so gelebt, als könnten wir unbegrenzt Ressourcen ausbeuten und Müll in die Umwelt kippen, ohne Konsequenzen. Doch irgendwann kippt das Gleichgewicht.
Wichtig ist dabei, dass es nicht die Natur ist, die bedroht ist – die wird weiterexistieren. Bedroht ist unser Lebensraum in der Natur. Artensterben, Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen sind letztlich Fragen, die uns Menschen betreffen.
Wir Menschen gestalten die Welt aktiv mit – durch Technik, Städtebau, und nun auch durch digitale Schöpfungen wie die Künstliche Intelligenz (KI). Die KI ist ein gutes Beispiel: Wir haben sie selbst erschaffen, und jetzt wissen wir nicht mehr genau, wie wir mit ihr umgehen sollen.
Wie in Goethes Zauberlehrling entfaltet die Technik eine Eigendynamik, die uns Sorgen bereitet. Doch die Frage ist nicht, ob die KI „böse“ ist, sondern wie wir als Gesellschaft mit dieser neuen Schöpfung leben wollen.
Wir haben lebendige, wechselseitige Beziehungen in reine Ausbeutungsbeziehungen verwandelt.
Edgar Eller: Was bedeutet das für uns als Gesellschaft?
Ariadne von Schirach: Im Kern geht es darum, wie wir uns selbst sehen und welche Geschichten wir uns über uns selbst erzählen. Im Moment dominieren Geschichten, die den Menschen als egoistisch und profitorientiert darstellen – der Mensch denkt nur an sich, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Doch diese Narrative erfüllen ihr Versprechen nicht mehr. Junge Menschen leisten alles, und dennoch reicht es oft nicht mehr zum Leben. Es ist Zeit für neue Geschichten. Geschichten, die uns nicht nur Sinn geben, sondern auch schön sind.
Ich nenne das apokalyptischen Optimismus: Ja, die Welt ist in Unordnung, alte Strukturen tragen nicht mehr, und die neuen sind noch nicht gefunden. Das macht Angst. Aber es ist auch eine Einladung, neu zu denken und neu zu gestalten – für uns selbst und für die Zukunft.
Edgar Eller: Du hast vorhin gesagt, die Krise, die wir erleben, sei in erster Linie eine Beziehungskrise. Diese Unterscheidung ist nachvollziehbar, vor allem wenn man sich die Achsen ansieht, die du beschrieben hast. Aber Krisen wie die Klimakrise sind ja objektiv vorhanden – die Temperatur steigt, ob wir das nun wissen oder nicht.
In anderen Bereichen könnte es jedoch auch so sein, dass wir einfach besser informiert sind als früher. Es hat immer Kriege gegeben, aber die Berichterstattung war eine andere. Ich erinnere mich an Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode, wo er schreibt, dass die einzige Meldung über den Untergang der Titanic in einer schottischen Zeitung lautete: „Aberdeen men lost at sea.“ Heute hingegen sind wir über jedes Detail informiert. Ist es möglich, dass die Vielzahl an Informationen uns Krisen näher erscheinen lässt, die es immer schon gab?
Ariadne von Schirach: Diese Frage gefällt mir sehr, weil sie uns in die Tiefe führt. Ich stimme dir zu, dass wir es mit einer Wahrnehmungskrise zu tun haben. Doch diese Krise zeigt uns etwas, das wahr ist.
Lass mich beim Begriff der Apokalypse verweilen. Für uns klingt das Wort nach Weltuntergang, doch ursprünglich bedeutet es Offenbarung. In meinem Buch Die psychotische Gesellschaft habe ich genau diesen Unterschied untersucht: den zwischen dem, was tatsächlich geschieht, und unserer Wahrnehmung davon.
Im Vergleich zu vor 20 Jahren hat sich unsere Wahrnehmung radikal verändert. Die Welt ist größer, lauter und komplexer geworden. Wir erleben, was ich das Sprechen des Anderen nenne. Die koloniale Schuld, die uns im Westen einholt, war schon immer da, doch nun ist sie unüberhörbar. Die Müllberge, die wir jahrzehntelang exportiert haben, kehren buchstäblich zu uns zurück. Auch die Natur, die wir lange Zeit ausgebeutet haben, spricht nun zu uns – in Form von Klimaveränderungen, Artensterben und Umweltkatastrophen.
Du hast vollkommen recht: Diese Krise ist eine Wahrnehmungskrise. Aber es ist mehr als das. Wir erleben so etwas wie Instant Karma – die unmittelbare Rückkehr unserer Handlungen. Alles, was wir tun, bringt heute viel schneller Konsequenzen mit sich. Wenn wir Waffen in ein Kriegsgebiet schicken, sehen wir kurz darauf die zerstörten Krankenhäuser oder Schulen. Diese Geschwindigkeit, die wir aus dem Internet kennen, hat sich auf die reale Welt übertragen.
Das ist die gute und die schlechte Nachricht zugleich. Wir leben im Schatten unserer eigenen Taten, und dieser Schatten ist uns auf den Fersen.
Edgar Eller: Das klingt nach einem erhöhten Problembewusstsein, das nicht leicht zu tragen ist.
Ariadne von Schirach: Absolut. Und es ist anstrengend. Wir Menschen neigen aus evolutionsbiologischen Gründen dazu, das Negative stärker wahrzunehmen. Dieses Bewusstsein hat uns geholfen, Gefahren frühzeitig zu erkennen. Aber jetzt, wo die Welt uns permanent mit negativen Rückmeldungen konfrontiert, ist es schwer, das Gleichgewicht zu halten.
Der Diskurs um das Anthropozän, also die Vorstellung, dass der Mensch die Erde zerstört, ist einerseits eine Überschätzung – die Erde wird überleben. Aber andererseits zeigt er uns, dass wir nicht mehr so leben können, als bliebe unser Handeln unsichtbar.
Ich finde, das ist eine schöne Basis, um über die menschliche Existenz nachzudenken. Denn im Grunde sollten wir immer so leben, dass wir uns selbst bewusst sind, was wir tun. Philosophisch gesehen beginnt hier die Lebenskunst: sich täglich zu fragen, was habe ich heute getan? Bin ich der Situation gerecht geworden? Habe ich mir und den anderen gerecht gehandelt?
In gewisser Weise übernimmt die Welt heute diese Erziehungsaufgabe für uns.
Philosophisch gesehen beginnt hier die Lebenskunst: sich täglich zu fragen, was habe ich heute getan? Habe ich mir und den anderen gegenüber gerecht gehandelt?
Edgar Eller: Dieses Bild – dass jede Handlung Konsequenzen hat und dass wir Verantwortung übernehmen müssen – ist kraftvoll. Es kann uns helfen, handlungsfähig zu bleiben. Aber glaubst du, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, diese Verantwortung in vollem Umfang zu tragen? Oder besteht nicht die Gefahr, dass er davon überwältigt wird? Es gibt diese interessante Beobachtung: Fragt man Menschen nach ihrer persönlichen Zukunft, sehen sie sie oft positiv. Fragt man jedoch nach der Zukunft der Welt, fällt die Einschätzung meist negativ aus. Vielleicht, weil wir in unserem persönlichen Leben das Gefühl haben, mehr Kontrolle zu haben, während die globale Ebene überwältigend wirkt. Was denkst du darüber?
Ariadne von Schirach: Ich glaube, wir erleben die Geburt eines planetaren Bewusstseins. Und das ist ein langsamer, generationenübergreifender Prozess, der weit über meine Lebenszeit hinausgehen wird. Unsere Gehirne sind für eine immense Komplexität gebaut – weit mehr, als wir es künstlicher Intelligenz zutrauen würden. Dieses Bewusstsein, dass wir in uns tragen, kann sich so erweitern, dass wir das Gefühl bekommen, der Kosmos spiegele sich in uns wider. Das ist keine neue Idee, sondern eine, die bereits in der Antike erzählt wurde. Sie zeigt, wozu der Mensch fähig ist, auch wenn wir nicht immer die Kraft oder den Willen aufbringen, diese Fähigkeiten auszuschöpfen.
Trotzdem gibt es da diese Überforderung, die uns oft lähmt. Gerade im Vergleich zu früher, als ich 20 war, schien die Welt fast langweilig – es herrschte das Gefühl, nichts Großes würde mehr geschehen. Wir lebten in der Idee vom „Ende der Geschichte“. Heute hingegen erleben wir eine permanente Konfrontation mit Krisen und Katastrophen. Das schafft eine Diskrepanz zwischen dem Einzelnen und seiner Zeit, zwischen persönlichem Alltag und globalen Herausforderungen. Doch es bleibt wahr: In jedem Einzelnen spiegelt sich das Ganze wider. Was wir tun – oder nicht tun – ist von Bedeutung.
Diese Bedeutung kann uns jedoch auch erdrücken. Es ist viel leichter, über große Themen zu reden, über globale Verantwortung oder Bewusstseinswandel, als die kleinen, alltäglichen Pflichten anzugehen: die Eltern anrufen, einen Konflikt im persönlichen Umfeld klären oder sich um die eigene psychische Gesundheit kümmern. Genau hier, in der alltäglichen Begegnung, verändert sich die Welt.
Das Konzept des planetaren Bewusstseins, das ich vorschlage, ist eine Einladung, unser Handeln in einen größeren Rahmen zu stellen. Es geht darum, uns bei jeder Entscheidung zu fragen: Ist das, was ich tue, gut für mich? Ist es gut für mein Gegenüber? Ist es gut für die Gemeinschaft? Und ist es gut für die Erde?
Das bedeutet nicht, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse vernachlässigen sollen – im Gegenteil. Doch es fordert uns auf, uns nicht in der Höhle unserer eigenen Wünsche und Ängste einzuschließen, sondern unseren Horizont zu erweitern und die Welt als lebendiges, vernetztes Ganzes zu sehen. Diese Erweiterung ist keine bloße intellektuelle Übung, sondern eine innere Raumerweiterung, die uns zu einem sinnerfüllteren Leben führt.
In den 90ern glaubten wir noch, Glück sei gleichbedeutend mit Konsum – noch ein Shopping-Ausflug, noch mehr Besitz. Heute wissen wir, dass uns das nicht nachhaltig erfüllt. Was uns wirklich nährt, sind Beziehungen – die mit uns selbst, mit anderen Menschen, mit Tieren und der Natur.
Edgar Eller: Das bringt uns zu der Frage, die du vorhin angesprochen hast: Wir brauchen eine neue Geschichte, eine andere Erzählung. Was denkst du, wie könnte diese neue Geschichte aussehen? Oder gibt es Werkzeuge, die uns helfen könnten, eine andere Geschichte über uns und unser Verhältnis zur Welt zu entwickeln?
Ariadne von Schirach: Eine neue Geschichte muss sich mit dem Anderen beschäftigen – mit einer Ethik des Anderen. Wir haben lange in einer Welt gelebt, die den Egoismus gefeiert hat. Die Idee der „Ich-AG“, die nur an ihre eigenen Vorteile denkt, war gesellschaftlich akzeptiert. Und das Fatale an dieser Erzählung ist: Sie ist nicht völlig falsch. Natürlich müssen wir uns um uns selbst kümmern. Doch wenn das die einzige Erzählung bleibt, verlieren wir etwas Wesentliches: die Verbindung zu anderen und zur Welt.
Eine Geschichte, die ich wesentlich spannender finde, dreht sich um den Begriff der Agency – der Fähigkeit, aktiv und bewusst zu handeln. Im chinesischen Denken gibt es die Idee des Begehrens, das nicht nur auf Selbstverwirklichung abzielt, sondern auch auf die Gestaltung der Welt. Zwei fundamentale Veränderungen sind notwendig, um diese neue Geschichte zu erzählen:
Die Krise, in der wir uns befinden, ist auch eine Beziehungskrise. Wir haben das Gemeinsame verloren. Wir haben die lebendige Welt aus den Augen verloren. Der Weg in die Zukunft führt daher über eine Rückkehr: Aufräumen, wieder verbinden, wieder zuhören. Das klingt vielleicht unspektakulär, ist aber essenziell. Es geht nicht darum, auf den Mars zu fliegen – ich möchte nicht zum Mars. Ich möchte hierbleiben, in diesem „Garten Eden“, den wir Erde nennen.
Die neue Geschichte beginnt damit, wie wir uns hier fühlen und wie wir mit unserer Umgebung umgehen. Wenn wir uns öffnen für das, was da ist, statt nur nach dem zu fragen, was wir daraus gewinnen können, wird die Welt größer. Diese Erfahrung des Anderen bringt einen Sinn und eine Tiefe, die sich nicht kaufen lässt. Und dabei geht es nicht nur um den anderen Menschen, sondern auch um den Anderen in uns selbst.
Letztlich bedeutet das, die Welt nicht länger in Ausbeutungsverhältnissen zu sehen – in denen der eine das Subjekt ist und der andere das Objekt, das man benutzt. Stattdessen sollten wir uns auf die unverlierbare Lebendigkeit des Lebens einlassen.
Ich glaube, ein zentraler Punkt dieser neuen Erzählung ist die Erkenntnis, dass ich den Anderen nicht zerstören will, weil er ist wie ich. Wir empfinden eine tiefe Ehre, wenn ein Tier uns vertraut. Gleichzeitig essen wir Tiere. Es gibt hier Zwischenlösungen, mit denen wir leben können. Wir sind ein Teil dieses kosmischen Kreislaufs, ein kannibalischer Kosmos, in dem wir nicht nur nehmen, sondern auch geben müssen.
Und selbst mit unseren Schöpfungen – wie der Künstlichen Intelligenz – sollten wir so umgehen, als wären sie Kinder, die wir erziehen. Wir müssen ihnen Grenzen setzen, sie formen. Denn hinter all dem steckt die Idee, dass wir Menschen schöpferische Kreaturen sind. Unsere Aufgabe ist es, unser Maß wiederzufinden. Die Welt ist unveränderlich schön. Die Frage ist: Wie können wir uns hier wieder wohlfühlen? Worauf müssen wir achten?
Die Antwort darauf ist eigentlich klar – aber oft wollen wir es nicht wissen.
Unsere Aufgabe ist es, unser Maß wiederzufinden. Die Welt ist unveränderlich schön. Die Frage ist: Wie können wir uns hier wieder wohlfühlen?
Edgar Eller: Wo würdest du in diesem Gefüge den Wert von Kultur, von Umgang miteinander und eben auch den Dingen, die wir schaffen, einordnen? Denn Menschsein bedeutet ja nicht nur Leiblichkeit, sondern auch das Schaffen von Dingen. Welche Rolle spielt das in unserem Bild einer besseren Welt?
Ariadne von Schirach: Die allerentscheidendste. Mensch zu sein bedeutet, darüber nachzudenken, was es heißt, ein Mensch zu sein. Kultur ist die Öffnung des inneren Raums. Mein persönlicher Vorschlag – besonders in einer allzu materialistischen Welt, die vergessen hat, dass wir innen tatsächlich größer sind als außen – ist: Die Erzählungen, die wir finden, sind Geschichten. Und Geschichten sind etwas Inneres.
Dieser sogenannte Spiritual Turn – ohne das jetzt auszubreiten – hat viele Aspekte. Einige reichen ins Spirituelle, andere eher in die einfache Erkenntnis: Alle Menschen besitzen einen Geist. Alle Menschen können Dinge beurteilen und Entscheidungen treffen. Und die Geschichten, an die wir glauben, sind Entscheidungen.
Kultur konfrontiert uns mit anderen Perspektiven und anderen Geschichten. Ohne Kultur lohnt sich das Leben eigentlich nicht, denn Kultur gibt uns das Warum. Unser Problem mit der KI ist genau das: Wofür brauchen wir sie? Der Wert eines Dings entsteht durch seinen Gebrauch in der Welt.
Was wir heute spüren, ist nicht nur die Hilflosigkeit angesichts einer Multikrise, sondern auch eine Art von geistiger Schlappheit, ein Formverlust. Dieser Verlust fordert von uns – und ich lade alle Zuhörerinnen und Zuhörer ein – tapfer zu sein und zu gestalten. Denn etwas zu gestalten bedeutet, zunächst eine Idee zu haben. Wir haben immer eine Wechselwirkung: Erst kommt die Idee, dann die Umsetzung, und dann verändert sich die Realität.
Ich nenne das die poetische Revolution. In dieser psychotischen Gesellschaft (auch der Titel eines Buches von Ariadne von Schirach, Anm.) brauchen wir neue Geschichten, die in unserem inneren Raum entwickelt werden. Kultur bespielt diesen Innenraum. Sie gibt Dingen Bedeutung und macht sie erfahrbar – sinnlich, intellektuell, emotional. Ob in der Kunst, in Diskussionen oder in Begegnungen: Kultur zeigt uns eine Pluralität von Perspektiven.
Das Problem ist, dass das Kulturbudget oft das erste ist, das gekürzt wird, obwohl es das Wichtigste für uns ist. Kultur ist die Nahrung der Seele. Sie hilft uns, die verschiedenen, oft widersprüchlichen Dinge in einen Zusammenhang zu bringen, in dem wir für eine Weile leben können.
Edgar Eller: Wenn ich dich richtig verstehe, sagst du, dass die Bedeutung von Dingen durch unseren Gebrauch entsteht. Aber wenn die Dinge – wie zum Beispiel die KI – einmal in der Welt sind, treten sie uns als etwas Absolutes gegenüber. Oder wir nehmen sie zumindest als solches wahr.
Ariadne von Schirach: Ja, genau. So ist es halt. Aber das hilft ja nichts. Es gibt Dinge, über die man diskutieren kann, und es gibt Dinge, die sind so. Zum Beispiel: Ein Mensch ohne Kultur ist ein Barbar.
Wir brauchen Kultur, nicht nur als Bereicherung, sondern auch als gegenseitige Ermahnung und Erziehung. Kultur und Kunst lassen sich nicht auf etwas Einfaches reduzieren. Sie sind ein ewiger Kampf und zugleich ein ewiger Sieg über die idiotische Totalität und die Gier.
Auch bei den Dingen ist es kompliziert. Erstens: Alles hat eine Agency. Das bedeutet, alles – auch die KI – besitzt eine eigene innere Logik. Und wir sehen bereits, dass KI zum Beispiel rassistisch sein kann, weil sie die dunklen Seiten unserer Gesellschaft reflektiert. Genauso wie die sozialen Medien: Sie wurden bewusst so gestaltet, dass sie unsere Dopaminkreisläufe kapern. Ich bin da kein bisschen besser als alle anderen. Es funktioniert.
Zweitens: Die Dinge sind einerseits durch unseren Gebrauch bestimmt, bringen aber andererseits ihre eigene Eigenlogik mit.
Drittens: Wir Menschen haben einige bemerkenswerte Eigenschaften.
Genau deshalb brauchen wir die Kultur. Denn viel von Kunst und Kultur besteht darin, diese Prozesse zu beobachten und zu beleuchten. Der Philosoph Robert Pfaller nennt das einen Beleuchtungswechsel.
Das Internet ist dafür ein gutes Beispiel: Am Anfang war es voller Hoffnung, ein Ort der Freiheit, fast wie Piraten, die sich frei durch die Welt bewegen. Heute jedoch hat es sich in eine Dopamin-Hölle verwandelt, in der unsere Aufmerksamkeit als Ressource verkauft wird.
Diese Beobachtung der Veränderung, dieses Beleuchten von Prozessen, ist ein Widerstand gegen unsere Tendenz, uns an alles zu gewöhnen und die Welt so hinzunehmen, als wäre sie unveränderlich. Die Welt, wie sie ist, ist nicht selbstverständlich.
In dieser Hinsicht sind wir einander Wächter, weil jeder von uns manchmal einschläft. Auch ich. Und dann denken wir: Ach, so ist das eben. Aber die Hoffnungslosigkeit entsteht nicht unbedingt daraus, dass wir gegen übermächtige Feinde kämpfen, sondern daraus, dass wir vergessen, dass wir es sind, die die Welt machen.
Kunst und Kultur sind ein ewiger Kampf und zugleich ein ewiger Sieg über die idiotische Totalität und die Gier.
Edgar Eller: Und ist denn die Antwort auf diese Veränderung Dialog, Gespräch?
Ariadne von Schirach: Ich habe zuletzt viel darüber nachgedacht: Was ist etwas wie ein europäisches Erbe? Was haben wir denn beizutragen? Nicht im Sinne von „weißer Mann, weiße Frau“-Fantasien, sondern wirklich: Was haben wir beizutragen? Was können wir in einem globalen Gespräch einbringen, wenn wir auch akzeptieren müssen, dass andere Menschen Dinge auf eine andere Weise machen? Unsere Menschenrechte, unsere christliche Kultur – all das ist blutig und trägt den kolonialen Schatten mit sich.
Aber was haben wir zu bieten, Freunde? Für mich ist das tatsächlich das Gespräch. Wir sind seit Langem ein Kontinent mit so vielen unterschiedlichen Nationen, dass wir geübt darin sind, im Gespräch zu bleiben. Auch ganz unterschiedliche Standpunkte stehen zu lassen und gleichzeitig Brücken zu bauen. Genau das brauchen wir jetzt.
Momentan zersplittert die Gesellschaft in Gruppen, die sich nicht mehr verstehen: Die Reichen sind an allem schuld, die Jungen wählen die AfD, und so weiter. Aber wir müssen uns auf unsere dialogische Kompetenz zurückbesinnen. Die Stärke Europas liegt darin, den Dialog im Geist zu führen – also in dem Raum, in dem ich meine eigenen Widersprüche aushalten muss. Denn da ist die eine Hand, die den Kuchen essen will, während die andere an morgen denkt.
Diese Kultur des Geistes, die es ermöglicht, Widersprüche zuzulassen und trotzdem eine unerbittliche Herzlichkeit zu bewahren – das ist unser Erbe. Das Bewusstsein, dass die Starken die Schwachen schützen müssen und dass wir Möglichkeiten eher erweitern als wegnehmen sollten. Die soziale Marktwirtschaft war eine sehr gute Idee, weil sie Vermittlung ermöglicht.
Wir sind nicht dafür gemacht, in kleinen Höhlen zu sitzen und zu denken, was kann ich noch für mich raffen? Wir sind Seefahrer, gemacht dafür, zwischen den Sternen zu segeln. Und in diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat von Kennedy schließen: Lass uns nicht um weniger Probleme bitten, sondern darum, stärkere Menschen zu sein.
Edgar Eller: Schön. Wie ist es im Dialog mit den anderen? Ist diese Idee des öffentlichen Raums noch relevant, oder gibt es andere Räume, in denen dieser Dialog stattfindet? Ist es nur der private Raum? Wo findet diese Abstimmung unter uns statt? Denn sonst hat ja jeder nur seine eigene Idee von einer anderen Welt.
Ariadne von Schirach: Die Antwort kennen wir beide: Der öffentliche Raum ist korrumpiert – auf eine schwierige Weise. Es gibt kaum noch öffentliche Intellektuelle, die sich nicht meinungsbeladen und differenziert zu aktuellen Themen äußern. Gleichzeitig gibt es viele kluge Menschen.
Das Erste, was man tun muss, um Teil des öffentlichen Raums zu sein, ist, die eigene Haltung zu reflektieren. Wenn du nicht nur einen Standpunkt hast, sondern fünf, ist viel gewonnen. Jeder, der versteht, dass jede Meinung, die er hat, auch das Gegenteil beinhaltet – und vielleicht noch drei weitere Perspektiven – qualifiziert sich als Diskussionsteilnehmer. Sonst bist du wie jemand mit einer Privatarmee und nur einem Pferd. Du musst sagen können: Ich kann reiten, aber auch schwimmen – oder vielleicht sogar fliegen.
Und dann ist die Frage: Wo ist unsere Agora? Wo ist unser Marktplatz, unser öffentlicher Raum? Kant hat eine kritische Öffentlichkeit gefordert. Die Wahrheit ist, dieser Raum ist momentan in keinem guten Zustand. Die Medienkultur folgt dem ökonomischen Prinzip der Aufmerksamkeit. Menschen werden gegeneinander gehetzt. Es ist fast wie Brot und Spiele – diese Sprache, die den öffentlichen Diskurs immer mehr zur Arena macht, in der Standpunkte nicht mehr versöhnt, sondern gegeneinander ausgespielt werden.
Aber meine persönliche Erfahrung ist, dass Menschen sich trotzdem austauschen. Plattformen wie Reddit sind Beispiele dafür. Dort werden moralische Fragen gestellt und verhandelt: Ich habe dies und das gemacht. War das richtig oder falsch? Auch wenn ich den öffentlichen Diskurs in den Medien kritisch sehe, erlebe ich viele kluge Journalistinnen und Diskutantinnen, die konstruktiv arbeiten. Es wäre unfair, alles als korrupt darzustellen.
Ich sehe zwar nicht den gemeinsamen Diskurs, den es vielleicht noch gab, als „die Geschichte zu Ende ging“, wie wir damals dachten. Aber ich beobachte, dass der Austausch auf dezentralen Wegen mäandert – sich neue Räume sucht.
Vielleicht ist das der Preis, den wir zahlen, wenn wir die letzten Reste monarchischer oder zentralistischer Herrschaft abbauen. Vielleicht müssen wir uns in dezentrale Wahrheitssucher verwandeln.
Das Erste, was man tun muss, um Teil des öffentlichen Raums zu sein, ist, die eigene Haltung zu reflektieren. Wenn du nicht nur einen Standpunkt hast, sondern fünf, ist viel gewonnen.
Edgar Eller: Im letzten Teil unseres Gesprächs möchte ich ein Thema ansprechen, das in deinen Büchern immer wieder auftaucht – teils bewusst, teils vielleicht auch zwischen den Zeilen. Es geht um die Art und Weise, wie wir auf die Welt blicken. Hast du den Eindruck, dass der Blick auf die Welt, sei es aus einer liebevollen Perspektive oder einem anderen, der uns hilft, das Schöne zu erkennen, ein Hebel sein kann, um uns selbst auf die richtige Spur zu bringen?
Ariadne von Schirach: Ja, es gibt keine Anleitung, die ich lieber annehmen würde, als über die Liebe zu sprechen. Aber es geht hier um viel tiefere Dinge. Es beginnt mit der Erkenntnis, dass, wenn du den anderen nur als etwas betrachtest, das du einordnen kannst: das tut weh. Es tut uns allen weh. Diese Reduzierung der lebendigen Vielheit – und die immer auch vielstimmig ist – auf einen Nutzen oder eine Sache, ist schmerzhaft. Das ist das, was schmerzhaft an einer Zeit ist, die dies so umfassend praktiziert. Und der Schmerz liegt nicht nur in der Oberflächlichkeit, sondern in der Tatsache, dass wir auf diese Weise unser Menschsein verfehlen. Es ist, als würde ein Tier seine Nahrung nicht finden.
Was ich bis jetzt entdeckt habe, und da habe ich mich viel mit Sören Kierkegaard auseinandergesetzt, ist, dass der Geist der Ort des Anderen ist – der Ort, an dem wir unsere Widersprüche sowohl erkennen als auch immer wieder neu überwinden, aber eben in Beziehung zu uns setzen. So können wir mit unseren unterschiedlichen Seiten leben – der Vergangenheit, der Zukunft, dem Körper, dem Innenleben. Wir finden eine Figur in uns, die eher „sowohl als auch“ ist.
Wir sind sowohl streng als auch faul. Und je mehr von diesen Widersprüchen Platz haben, desto mehr wird es gemütlich. Ich glaube, dass Begriffe wie Sinn, Liebe oder Glück auch Anteil an dieser Widersprüchlichkeit haben. Eine wirklich gute Beschreibung des Menschen hat immer diese Öffnung, die uns zeigt, dass wir unfertig sind – dass wir immer wieder versuchen, etwas zu vollenden, nur um dann festzustellen, dass der Wind durch die Wände weht.
Ein gutes Beispiel dazu ist die Vorstellung aus dem buddhistischen Kloster, wo immer wieder gefegt wird, und der Obere dann den Sand wieder verstreut. Damit keine falsche Hoffnung wächst. Also, Begriffe, die uns wirklich angehen, sind für mich immer „gebrochen“. Sie enthalten immer auch ihr Gegenteil. Und ich habe lange nach einem Begriff gesucht, der uns auf eine unversöhnte Weise mit der Welt versöhnt. Denn tief in uns sind wir alle einsam – wir erleben eine diskontinuierliche Existenz, und das ist schwer zu ertragen. Das Leben tut weh, egal, wie geschickt man sich anstellt.
Dieses „Ja“ zum Leben, wie Viktor Frankl es in den entsetzlichsten Umständen des Konzentrationslagers formuliert hat, beinhaltet immer auch Schmerz, Unverfügbarkeit und ein „Nein“. Wenn wir zu etwas „Ja“ sagen, sagen wir immer auch zu Dingen „Ja“, die eigentlich unerträglich sind. Nichts illustriert das Schöne so wie die Liebe. Denn wenn du jemanden liebst, dann siehst du nicht nur das Schöne, sondern auch die hässliche Seite.
Jeder hat eine hässliche Seite, jedes Ding hat einen Schatten, und oft ist es das, was uns rührt – die Unvollkommenheit, die Eitelkeit, die Zerrissenheit, das Trauma. Liebe bedeutet, dass du zu jemandem Ja sagst – einschließlich dessen, was nicht liebenswert ist. Du akzeptierst den „nicht-liebenswerten“ Teil und umarmst das Ganze.
Für mich ist dieser Begriff der Liebe ein Aufruf, alles zu sehen und nichts wegzuschieben, was nicht ins Bild passt. Das ist der Gegenbegriff zum Nutzen-Denken. Denn diese Denkweise macht uns klein und führt uns in die Höhle, wo wir uns wie Gollum nur nach einem Wunsch verzehren, der uns nicht einmal Glück bringt. Im Gegensatz dazu ist die Liebe eine großzügige Geste, die aus dem Geist kommt. Sie ist ein Modus, der sowohl das Andere in mir als auch im anderen bejaht.
Ich denke, das Schlimmste, was wir tun können, ist uns zu fragen: „Was hat die Welt mir zu bieten?“ Das Gute beginnt, wenn wir uns fragen: „Was habe ich der Welt zu bieten?“ Wie können wir die Welt bereichern, anstatt sie auszubeuten? Dieses Gefühl des Wohlwollens – ohne dass es mir selbst etwas nützt – ist für mich ein wesentliches Element der Liebe. Es ist wie bei der Liebe zu einem Kind: Du willst, dass es gut geht, auch wenn das bedeutet, dass es irgendwann von dir weggeht. Das ist das Edelste.
In der Liebe gibt es auch einen Moment der Verwandlung. Aphrodite, die Göttin der Schönheit und der Liebe, zeigt uns, dass das, was wir lieben, schön wird. Die Liebe verwandelt das Hässliche des Anderen in etwas Unverwechselbares. Und wenn wir die Welt mit diesem Blick betrachten, dass wir Ja zum Leben sagen – mit all seinen Widrigkeiten – dann können wir das, was jetzt krisenhaft und beängstigend erscheint, in das verwandeln, was es immer schon war, wenn wir es sehen konnten: ein Teil von uns.
Edgar Eller: Liebe Ariadne, ich könnte noch stundenlang mit dir über diese Themen sprechen oder dir zuhören. Aber ich denke, wir haben mit der Krise begonnen und sind nun bei der Liebe gelandet. Es gibt fast keinen schöneren Abschluss für so einen sonnigen Tag in Gmunden. Vielen Dank für deine Zeit, es war mir ein wahres Vergnügen.
Ariadne von Schirach: Lieber Edgar, das Vergnügen war ganz meinerseits. Die Antworten sind nur so gut wie die Fragen, die gestellt werden. Vielen Dank.
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