Die „Offene Bibliothek“: Ein Musterbeispiel partizipativer Kunst
10.10.2017
Kultur
10.10.2017
Kultur
1989 begannen die Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann mit dem Projekt „Die Offene Bibliothek“ (The Open Public Library) zunächst in der unmittelbaren Umgebung ihres damaligen Ateliers, in New Jersey (USA), wo erste Experimente zu Form, Größe und Nutzbarkeit untersucht wurden.
1991 wurde die „Offene Bibliothek“ dann erstmalig in Europa, im österreichischen Graz, anschließend in Hamburg (1993) und Mainz (1994) im Kontext von „Kunst im öffentlichen Raum“-Projekten präsentiert. Auf der Grundlage der von Umberto Eco veröffentlichten wissenschaftlichen Schrift „Das offene Kunstwerk“ (Vgl. ECO, Umberto: „Das offene Kunstwerk“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; Berlin,1977.), („Opera aperta“, 1962) konzipierten die beiden Künstler eine partizipatorische Installation im urbanen Raum, die Gemeinschaften definiert, bildet und zum schöpferischen Umgang anhält.
Die in Israel aufgewachsenen und in den USA studierten Künstler,die heute in Deutschland und Österreich leben, definierten zunächst allgemeingültige und internationale Gepflogenheiten und Vorgänge, die einer gewissen Anzahl von kulturinteressierten Menschen grundsätzlich bekannt sein dürften.
Das Ausleihen von Büchern in einer Bibliothek oder Bücherhalle. Die Basisvoraussetzung,wie eine Bücherausleihe funktioniert, ist zudem ein schnell erlernbarer Akt und setzt keinerlei bildkünstlerische Vorkenntnisse voraus, um einer „Community“ anzugehören, die „Offene Bibliotheken“ benutzt.
Witterungsfeste Verteilerkästen im öffentlichen Stadtraum, die einst zur Ampel- und Lichtanlagenschaltung in Großstädten dienten und als veraltet ausrangiert worden waren, wurden in Hamburg an drei Standorten zu Bücherschränken umfunktioniert.
Das technische Innenleben wurde entfernt und mit Glastüren, Regalen und Büchern von Menschen aus der unmittelbaren Umgebung bestückt. Hierzu schrieben Clegg & Guttmann standardisierte Briefe, die in Briefkästen von Haushalten in einem Radius von ca. 800 Metern um die neu aufgestellten, ehemaligen Verteilerkästen geworfen wurden.
Darin baten sie die Anwohner um Bücherspenden und darum, diese zu bestimmten Zeiten an einer Sammelstelle abzugeben. Nach Ablauf dieser Zeit wurden die Bücher in die nun eingeweihten „Offenen Bibliotheken“ eingeräumt und der Öffentlichkeit übergeben.
Auf einem Metallschild, das an der Seite der Kästen angebracht war, stand je nach Ort, Strukturierung und Herkunft der Anwohnerschaft in mehreren Sprachen der kurze Hinweis: „Entnehmen Sie bitte die Bücher Ihrer Wahl und bringen Sie diese nach einer angemessenen Zeit wieder zurück. Ergänzungen des Bücherbestands sind willkommen.“
Es gab jedoch keinen direkten Verweis, dass es sich um ein Kunstwerk handelt. Und dass der Kunstverein in Hamburg zeitgleich zur Projektlaufzeit eine gleichnamige Ausstellung veranstaltete. In der Information des Veranstalters tauchten lediglich die beiden Begriffe „Kunstverein“ und „Kulturbehörde“ auf.
Weder Bibliothekare noch ein technisches System wachten über eine fristgerechte Bücherrückgabe. Und noch eine weitere Besonderheit sorgte dafür, dass es sich nicht um eine Bibliothek im herkömmlichen Sinn handelte. Druckwerke konnten rund um die Uhr, d.h. 24 Stunden täglich ausgetauscht werden. Jeder durfte also zu jeder Tages- und Jahreszeit kommen, den Bücherschrank öffnen, Publikationen entnehmen, zurückbringen oder hinzufügen.
Auf eine Kontrolle der Fluktuation und der tatsächlichen Rückgabe verzichteten die Künstler also ebenso bewusst, wie auf eine zeitliche Vorgabe der Leihdauer sowie auf jedwede interne Sortierung oder Auswahl und Benutzung der Bücherkästen zu bestimmten Öffnungszeiten. Die Künstler organisierten diese soziale Skulptur in dem Wissen, dass es sich um ein sensibles System handelt, das von Einzelnen oder Gruppen gut genutzt, aber auch zerstört, gestört oder ad absurdum geführt werden konnte.
So passierte es in Hamburg an einem der drei Standorte etwa mehrmals, dass, sobald die „Offene Bibliothek“ gefüllt war, jemand mit einem Lieferwagen vorfuhr und ihr alle Bücher entnahm, um sie auf einem Flohmarkt zu verkaufen. Die Künstler hofften aber darauf, dass sich Gruppen aus der Anwohnerschaft bildeten, die den Wert dieses Kunstwerks im öffentlichen Raum, das erst durch die gemeinschaftliche Teilnahme eines „Publikums“ funktioniert, erkannten und sich dafür verantwortlich fühlen würden.
Die Künstler selbst zogen sich daher nach der Initiierung zurück und überließen das Werk quasi der „Auswilderung“ in die Freiheit. (Zur Offenen Bibliothek in Hamburg unternahm während der Laufzeit 1993 der Studiengang „Angewandte Kulturwissenschaften“ der Universität Lüneburg eine soziologische Studie, um Verhalten, Nutzungsmuster und anonyme statistische Daten zu ermitteln.)
Clegg & Guttmann bezeichnen die Bibliotheken als Portraits von Nachbarschaften, die mit Hilfe einer Selbstorganisation dafür Sorge tragen sollten, dass das Kunstwerk langfristig funktioniert. (Vgl. FRIEDE, Claus: Interview mit Clegg & Guttmann, in: Clegg & Guttmann „Die Offene Bibliothek“; Hamburg, 1993, S. 17ff.) In einem Katalog des Kunstvereins und der Kulturbehörde Hamburg sind die unterschiedlichen Bezugspunkte detailliert erläutert.
Kunsthistorisch bezogen sie sich auf Werke des frühen 20. Jahrhunderts der Russischen Avantgarde. Auf die Konstruktivisten um Wladimir Tatlin, Alexander Rodschenko, Varvara Stepanova und andere, die die Kluft zwischen der Kunst und der Bevölkerung durch aktive (Be-)Nutzung überwinden wollten. Vor allem spielt das Werk von Franz Erhard Walther eine zentrale Rolle.
Dieser hatte in den 1960er-Jahren mit dem „Ersten Werksatz“ ein Konzept erarbeitet, das Objekte erst durch die Benutzung zum Kunstwerk macht. Unbenutzt handelt es sich bei den Objekten – laut Walther – lediglich um ein Instrumentarium. Bereits bei Walther wurde also bereits eine gehörige Portion an kommunikativer Verantwortung vom Künstler an das Publikum delegiert.
In Stefan Rettichs „Stadt auf Probe – situative Praktiken im Stadtbau“ heißt es zur „Offenen Bibliothek“ ergänzend: „Im Grunde geht es bei dem Projekt nicht um eine Bibliothek und schon gar nicht um die Aufforderung, Architektur aus ‚Bierkisten’ herzustellen. Beide Ebenen sind in freier Interpretation der Beuys’schen Begriffswelt nur Strategien und räumliche Produkte innerhalb einer übergeordneten Sozialen Plastik.
Es geht um Bewusstseinsveränderung und um die Arbeit an der Gemeinschaft. Darum, die Möglichkeit von Stadt auch an vermeintlichen ‚Unorten’ zu testen und unerwartete Handlungsoptionen aufzudecken – wir nennen das ‚Situativen Urbanismus’“. (RETTICH, Stefan: „Stadt auf Probe – situative Praktiken im Stadtbau“, in: U. Altrock, R. Kunze, E. Pahl-Weber, U. von Petz, D. Schubert (Hg.): Jahrbuch der Stadterneuerung 2008; Berlin, 2008.)
Die Offene Bibliothek kann trotz dieser konkreten Bezüge als Pilotkonzept und Vorbild eines performativen, die Bevölkerung aktiv einbindenden Projekts mit Langzeitwirkung bezeichnet werden. Auch deswegen, weil das Kulturmanagement diese Vorgehensweise seit den späten 1970er-Jahren im Postulat „Kultur für alle“ für sich entdeckt hat, um generell neue Rezeptionsformen für Kultur zu finden und öffentliche Gelder zu legitimieren.
Aber auch in Hinblick auf die sich erst später entwickelnde sogenannte „Outreach“-Strategie, bei der sich Kulturinstitutionen nicht an ihrem Ort im Museum, Theater etc. traditionell präsentieren, sondern prinzipiell überall, um zudem bislang kulturell vernachlässigte, potentielle Interessenten und mögliche künftige Besucher zu akquirieren. Hier vollzieht das Kulturmanagement etwas nach, was Künstler bereits seit langem für sich entdeckt haben.
Die Notwendigkeit, Veränderungen und Neuorientierung durch partizipatorische und ortsungebundene künstlerische Aktionen oder Projekte zu initiieren,ist in Anbetracht von weniger als 10% (Vgl. Statistisches Bundesamt (Bildung, Forschung, Kultur); www.statis.de; Wiesbaden,2017.) regelmäßigen Kulturnutzern in Deutschland, auf die Gesamtbevölkerung gesehen, mehr als gegeben. (Vgl. MUNDORF, Anne: „Entwicklungspotentiale der Kulturellen Teilhabe in deutschen Kulturinstitutionen“, Riga, 2017 (unveröffentlicht).
Die in Mainz im Jahr 1993 installierte Offene Bibliothek wird bis heute durchgängig an zwei verschiedenen Orten von Anwohnern der rheinland-pfälzischen Hauptstadt in Eigenregie betrieben. Unabhängig von der Herkunft, der Bildung und dem sozialen Gefüge der Anwohner ist die offene Bibliothek seit langem in Gebrauch – und somit ein Musterbeispiel einer funktionierenden sozialen Skulptur. (Vgl. FRIEDE, Claus / REICHARDT, Dagmar: „Kultur der vielfältigen Gesellschaft: Deutschland transkulturell“; Exposé für eine Studie, Bertelsmann Stiftung & Deutsche UNESCO Kommission; Hamburg, 2017 (unveröffentlicht).
Darüber hinaus haben sich mittlerweile die Idee und das Kunstwerk verselbstständigt und dienen als „bibliothekares“ Vorbild in vielen Städten, zwischen Hamburg und Bruck an der Mur, in Darmstadt und Basel, zwischen Wien und Solothurn, Hamburg oder Kassel, Bern und Essen.
Auch hier findet der Besucher – je nach Bevölkerungsstruktur in unterschiedlichen Sprachen – Hinweistafeln, die die „Ausleihe“ definieren und die Nutzer über die Projektidee informieren. Auf diese Weise kommt durch die Prinzipien der Freiwilligkeit und Eigenverantwortung eine dynamische Zirkulation kultureller Austauschprozesse in Gang, die die Bevölkerung symbolisch miteinander verbindet und durch die Teilhabe an kulturellen Gütern – wie hier: den entliehenen und in die Offene Bibliothek freiwillig eingestellten Büchern – in Bildungsprozesse einschließt.
Unter der Überschrift „Zum Geben und Nehmen – Entleihen unter freiem Himmel“ (ASCHENDORF, Dirk: „Zum Geben und Nehmen“, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung; Essen, 22. Dezember 2009. S. A07912ME.) verwies Dirk Aschendorf in einem Artikel in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung im Jahr 2009 darauf, dass es sich bei den „Offenen Bibliotheken“ nicht um eine Konkurrenzsituation zu öffentlichen Bücherhallen oder Bibliotheken in Essen handle, sondern um eine sinnvolle Ergänzung und um einen weiteren „Mosaikstein zur Förderung von Lesekultur“.
Sinnigerweise stellte die Stadt gemeinsam mit und unterstützt von der Stiftung Mercator einen der Bücherschränke „bühnenwirksam“ vor dem Essener Grillo-Theater auf.
Spitzenreiter, was die Anzahl der „Offenen Bibliotheken“ angeht, ist die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover. Seit 2005 sind dort 35 dieser fest installierten Bücherschränke – 30 davon städtisch, 5 privat – initiiert worden.
Auch Tourismusverbände oder Stadtwerke fördern seit Mitte der 2000er-Jahre derlei permanente „Ausleih-Aktionen“ und „bibliothekar“ selbstorganisierte Initiativen. Im beschaulichen Salzburger Land, in Fuschl am See können etwa jene, die auf den öffentlichen Nahverkehr warten, aus einem am Wartehäuschen angebrachten Hängeregal, Bücher entnehmen und (vor-)lesen.
Die Pinneberger Verkehrsbetriebe hingegen bieten seit 2010 auf ihrem Bus-Streckennetz in der Metropolregion Hamburg den Passagieren an, Bücher aus einem Regal, welches hinter der Fahrerkabine angebracht ist, zu entleihen.
In den 155 Bussen gingen bislang rund 900.000 Bücher durch die mobile, rollende und offene Bibliothek.
In Freiburg/Breisgau sind beispielsweise zweireihig alte Kühlschränke aufgetürmt worden und dienen als Bücherstationen. Während man zum gleichen Zweck unbenutzte Telefonzellen an vielen Orten in Berlin und anderswo findet. In Hamburg-Hoheluft ist auf einem Platz vor der Markus-Kirche ein Holzbücherschrank aufgestellt. Dieser wird regelmäßig und schließlich unabhängig von Wind und Wetter von den Anwohnern und Gemeindebesuchern genutzt.
Selbst auf einem Friedhof findet sich eine Offene Bibliothek. Im Jahr 2012 wurden auf dem historischen jüdischen Friedhof in Krems (Wiener Straße 133) drei Bibliotheksschränke von Michael Clegg und Martin Guttmann errichtet. In der Projektbeschreibung heißt es: „Die Künstler schufen ein Bücherregal mit Glastüren in der Größe und Form eines Grabsteins. Es enthält eine sorgsam ausgewählte Sammlung von Büchern, die der jüdischen Philosophie und der Geschichte des Todes gewidmet ist.
Die Auswahl setzt sich aus deutschen, englischen und hebräischen Texten zusammen. So ist die Arbeit also weniger ein Denkmal für einen fehlenden Grabstein, als für die große und einstmals gedeihende jüdische Gemeinde in Krems. Die Besucher sind dazu eingeladen, diese Kombination aus Kunstwerk, Bibliothek und Kulturfundus zu erforschen und die Bibliothek mit eigenen Büchern zu diesen Themen zu erweitern.“ (Quelle: http://judeninkrems.at/eine-bibliothek-auf-dem-friedhof/.)
Ein erstaunliches Phänomen ist, dass Zerstörungen der „Offenen Bibliotheken“ selbst an „heiklen“ Orten bislang nur selten stattgefunden haben. Zwar gab es in Mainz, Bonn und Hamburg Fälle von Teilzerstörungen oder Auflösung des Bücherbestands. Aber die selbstverantwortlichen Gemeinschaften sorgten immer wieder dafür, dass die „Offenen Bibliotheken“ in ihre künstlerische, freiheitliche und demokratische Funktion zurückkehrten.
Warum sich bereits mehr als achtzig Standorte in Österreich als Mitglieder beim Dachverband Stadtmarketing Austria austauschen?
Weil wir gezeigt haben, dass „Miteinander“ mehr bringt. Im Miteinander machen Sie für Ihren Standort das Mögliche zum Machbaren. Wir unterstützen Sie dabei mit Know-how, das sich in der Praxis bewährt hat, mit Weiterbildung, die neue Perspektiven eröffnet sowie mit Erfahrungsaustausch, der Sie in Ihrer Rolle stärkt.
Formen Sie aktiv die Zukunft des Stadtmarketings!
Werden Sie Teil unserer dynamischen Gemeinschaft und nutzen Sie unsere vielfältigen Angebote zur fachlichen Weiterentwicklung und Einflussnahme.