Die 15-Minuten-Stadt als Lösung für urbane Herausforderungen

14.11.2024
Architektur, Gesellschaft

15MinStadt Sujet
(c)pixabay.com/Surprising_SnapShot

Städte sind weltweit von großen Herausforderungen geprägt: Stau, Luftverschmutzung, Platzmangel, Lärm, Klimawandel und soziale Isolationen gehören zu den Problemen, mit denen städtische Gesellschaften konfrontiert sind. Die klassische autozentrierte Stadtplanung hat diese Probleme verschärft, indem sie große Entfernungen zwischen Wohn-, Arbeits-, und Freizeitbereichen geschaffen hat. Ein Konzept, das all diese Themen adressieren und das urbane Leben nachhaltiger und vor allem menschenfreundlicher gestalten möchte, ist die sogenannte Die 15-Minuten-Stadt.

Diese Idee, die auf eine radikale Umgestaltung der Stadtplanung abzielt, geht auf den Stadtforscher Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Universität Panthéon Sorbonne zurück. Sie strebt an, städtische Räume so zu gestalten, dass die Menschen ihre täglichen Besorgungen, von der Arbeit über den Einkauf bis hin zur Freizeitgestaltung innerhalb eines Radius von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können.

Leben im Viertelstunden-Radius: Konzept mit weitreichenden Effekten

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt fordert eine grundlegende Umgestaltung urbaner Strukturen, um eine solche Zugänglichkeit zu ermöglichen. Dies bedeutet, dass ehemals getrennte Stadtteile und -funktionen miteinander verschmelzen. Wohnviertel, Arbeitsorte, Geschäfte, Schulen, Parks, Sporteinrichtungen und Ärzte sollen räumlich näher zusammenrücken, um den Bürger:innen eine funktionale und vielfältige Nutzung ihrer Nachbarschaft zu ermöglichen.

Eine solche Stadtstruktur fördert den Kontakt zwischen den Menschen und stärkt die lokale Gemeinschaft. Da die Wege kurz sind und vieles zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt werden kann, reduziert sich der Bedarf an motorisiertem Verkehr.

Vorteile & positive Auswirkungen auf städtisches Leben

Das 15-Minuten-Modell birgt zahlreiche Vorteile für Umwelt, Gesundheit und das soziale Leben und kann langfristig zur Lösung vieler urbaner Probleme beitragen.

  • Verminderter Autoverkehr und mehr Raum für Menschen: Da die Menschen ihre täglichen Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen können, verringert sich der Bedarf an Autos. Parkplätze und Straßenflächen können dadurch in Parks, Spielplätze und Begegnungsorte umgewandelt werden, was die Attraktivität und Lebensqualität der Stadtteile deutlich erhöht.
  • Bessere Luft, Entsiegelung und weniger Lärm: Weniger Autoverkehr bedeutet weniger Emissionen und geringeren Lärmpegel. Davon profitieren die Umwelt und die Gesundheit der Stadtbewohner:innen. Zudem können freiwerdende Verkehrsflächen begrünt werden, was sich positiv auf das Stadtklima auswirkt.
  • Stärkere soziale Bindungen und lebendige Nachbarschaften: Wenn die Menschen ihre Besorgungen und Freizeitaktivitäten in ihrem Viertel erledigen, kommen sie häufiger miteinander in Kontakt. Durch Begegnungszonen, gemeinschaftlich genutzte Grünflächen und lokale Treffpunkte entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Nachbarschaften werden lebendiger und sozialer.
  • Integration benachteiligter Bevölkerungsgruppen: Bedürfnisse derer, die historisch aus der Planung von Städten weitestgehend ausgeschlossen wurden, wie Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen, können durch den Fokus auf Begehbarkeit und Zugänglichkeit in der 15-Minuten-Stadt viel besser bedient werden.
  • Etablierung neuer Wirtschaftszweige & Renaissance der Nahversorgung: Durch neue Bedarfe, die durch die Nutzungsvielfalt in den Quartieren entstehen, konnten sich neue Geschäftsideen wie Co-Working oder Sharing-Modelle durchsetzen. Auch kleine, unabhängige Geschäfte, die oft von Laufkundschaft leben, profitieren von den kurzen Wegen.
  • Aufwertung der Immobilien: Letztlich profitieren wohl auch Immobilienbesitzer von der Entwicklung hin zur 15-Minuten-Stadt: Die Nachfrage nach urbanen, fußläufig erschlossenen Vierteln lässt Immobilienwerte steigen, wie eine Europastudie des Maklernetzwerkes Remax ergab. Vor allem abgehängte Stadtteile und Randgebiete könnten durch diese Planungsidee attraktiver und lebenswerter werden.
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Die 15-Minuten-Stadt: ein Konzept mit Chancen auf  lebendigere und sozialere Nachbarschaften (c) Pixabay/breaktime

Krude & berechtigte Kritik an der 15-Minuten-Stadt

Neue Konzepte müssen sich auch immer ihren KritikerInnen stellen. Nicht alle reagierten auf die 15-Minuten-Stadt mit Begeisterungsstürmen – aus unterschiedlichen Beweggründen.

Einschränkung der Bewegungsfreiheit?

Auch die 15-Minuten-Stadt blieb nicht von Verschwörungstheorien verschont. Manche Kritiker sehen darin eine potenzielle Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit und ziehen Parallelen zu dystopischen Szenarien, in denen Menschen nur begrenzte Zonen verlassen dürfen. In sozialen Netzwerken und bei Demonstrationen in Großbritannien und Kanada wurde das Konzept mit Begriffen wie „Klima-Lockdowns“ in Verbindung gebracht. StadtplanerInnen hingegen werden nicht müde zu betonen, dass die 15-Minuten-Stadt auf mehr Lebensqualität durch kürzere Alltagswege fokussiert und Menschen keineswegs in ihrer Mobilität einschränken soll.

Kein Patentrezept für alle Städte

Eine aktuelle Studie samt Vergleichs-Weltkarte des italienischen Forschers Vittorio Loreto zeigt, dass das Konzept der 15-Minuten-Stadt zwar einige europäische Städte wie Wien und Paris gut umsetzen können, jedoch global oft unrealistisch bleibt. In vielen Städten weltweit – insbesondere in autolastigen US-Städten wie Dallas oder Atlanta – ist eine 15-Minuten-Erreichbarkeit von wichtigen Einrichtungen kaum möglich.

Selbst bei umfassenden Infrastrukturänderungen könnten viele Städte das Ziel nicht erreichen, da sie stark auf Autoverkehr ausgerichtet sind, berichtet Loreto. Die Analyse verdeutlicht auch, dass Arbeit und hochwertige Angebote wie Gesundheitsdienste oft nicht im Wohnumfeld liegen, was Pendelwege unvermeidlich macht. Loreto schlussfolgert, dass die 15-Minuten-Stadt für bestimmte Standorte zwar ein sinnvolles Ziel sein kann, jedoch keine universelle Lösung für alle städtischen Herausforderungen weltweit darstellt.

Internationale Best Practises

Weltweit setzen Städte auf innovative Konzepte, um den urbanen Raum lebenswerter, nachhaltiger und klimafreundlicher zu gestalten. Im Folgenden ein paar Best Practices, die als Vorbilder für nachhaltige Stadtentwicklung dienen.

Paris & seine „Ville de quart d’heuer“

Das Modell der 15-Minuten-Stadt stieß bei den Pariser:innen- allen voran bei Bürgermeisterin Anne Hidalgo – auf große Begeisterung und ambitionierte Umsetzung. Seit 2014 wurde in Paris massiv in die Radinfrastruktur investiert: Die Fahrradwege wurden auf über 1.000 Kilometer ausgebaut, und die Stadt hat 150 Millionen Euro in die Verdopplung des Radnetzes gesteckt.

Zusätzlich wurden ganze Straßen für den Autoverkehr gesperrt und in Flaniermeilen für Fußgänger:innen umgewandelt – wie etwa das Seineufer, das früher als Schnellstraße für 43.000 Fahrzeuge diente und nun eine beliebte Fußgängerzone mit Millionen von Besucher:innen ist. Mit dem ambitionierten Ziel bis 2050 klimaneutral zu werden, wurde ein starker Fokus auf die Förderung des Fuß- und Radverkehrs gelegt: Bis 2026 fließen zusätzlich 250 Millionen Euro in die Radinfrastruktur, einschließlich 180 Kilometer neuer Radwege, grüner Wellen für Radfahrende und Ampelvorrang für Busse und Straßenbahnen.

Zur Verbesserung der Luftqualität und der Lebensräume werden bis 2026 rund 170.000 Bäume gepflanzt und zentrale Orte wie die Champs-Elysées zu grünen Boulevards umgestaltet. Das Projekt „Rue aux écoles“ verbessert zudem die Sicherheit von Schulkindern durch verkehrsberuhigte Straßen, neue Aufenthaltsbereiche und Schatten spendende Begrünung.

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Paris legt mit seinen „Ville de quart d’heuer“ einen starken Fokus auf die Förderung des Fuß- und Radverkehrs (c) Pixabay.com/Gaimard

Oslo am Weg zur Klimaneutralität

Bereits 2015 startete die norwegische Hauptstadt damit, Schritt für Schritt den motorisierten Individualverkehr aus dem Zentrum zu verbannen, der öffentliche Nahverkehr wurde ausgebaut und die Verbreitung von Leihfahrrädern gefördert. Die Umwandlung von Park- in Grünflächen stellt eine von vielen Maßnahmen eines ehrgeizigen Plans der Stadtregierung dar, die Innenstadt bis 2030 klimaneutral zu machen. Durch die Schaffung von Tempo-30-Zonen in 70 Prozent der Straßen und den Bau von 100 Kilometern neuer Radinfrastruktur wird ein sicheres und attraktives Umfeld für Radfahrer und Fußgänger geschaffen.

Barcelona & seine Superblocks

Die katalanische Hauptstadt hat das Konzept der „Superblocks“ entwickelt, eine Art Mini-Stadtteile, in denen der Autoverkehr drastisch reduziert wird, um Platz für Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und grüne Freiflächen zu schaffen. Dieses Modell hat positive Effekte auf die Luftqualität und fördert die soziale Interaktion.

Melbourne in 20 Minuten

In Melbourne verfolgt man das 20-Minuten-Nachbarschaftsmodell, das eine ähnliche Zielsetzung wie die 15-Minuten-Stadt verfolgt. Bewohner:innen sollen innerhalb von 20 Minuten Zugang zu wichtigen Einrichtungen haben, und die Stadt fördert Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen.

Konzepte für kleinere Städte: 1-und 5-Minutenstadt

Das Prinzip der dezentralen Grätzln lässt sich auch auf kleinräumigere urbane Räume umlegen – mit entsprechend weniger Zeit fürs Unterwegssein.

  • In Winterthur beispielsweise wird im neuen kommunalen Richtplan das Konzept der „5-Minuten-Stadt“ umgesetzt. Dabei geht es darum, dass alle wichtigen Orte des täglichen Lebens, wie Supermärkte, Schulen und Parks, in nur fünf Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sind.
    Dieses Konzept fördert nicht nur eine Abkehr von der Autoabhängigkeit, sondern legt auch den Fokus auf einen gemütlicheren, nachhaltigeren Langsamverkehr und die Stärkung der einzelnen Stadtquartiere. Durch Auftaktveranstaltungen und kreative Experimente in den verschiedenen Stadtteilen möchte die Stadt die Potenziale der „5-Minuten-Stadt“ entdecken und gemeinsam mit den Bewohner:nnen Ideen entwickeln.
  • In Stockholm etwa wird derzeit das Konzept der Minutenstadt erprobt, bei dem durch die Einbindung der Anwohnerinnen hyperlokale, jeweils auf einen Straßenzug ausgerichtete Städte geschaffen werden sollen. Die Menschen können den Raum vor ihrer Haustür kreativ gestalten und schaffen so Ausgleichsorte im öffentlichen Raum.
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Auf Hyperlokalität setzt Stockholm mit seinem angepassten Konzept der „Minutenstadt“ (c) pixabay.com/GPoulsen
  • Auch das Modell der 3-Minuten-Stadt ist bereits ersonnen und könnte etwa im Berliner Stadtteil „Bahnhof Westkreuz“ zur Anwendung kommen, wissenschaftliche Analysen laufen bereits. Als einer der zentralen Kreuzungsbahnhöfe der S-Bahn könnte er zu einem lebendigen Knotenpunkt für Einzelhandel, Gastronomie und Wohnraum werden, ohne dass Auto- oder Parkplatzbedarf entsteht. Die umliegenden Brachflächen bieten Entwicklungschancen, um ein urbanes Umfeld zu schaffen, in dem alle wichtigen Funktionen in nur drei Minuten Fußweg erreichbar sind.

Wie das Konzept auch für einzelne Orte funktionieren könnte, erläutert Michael Gsaller, Präsident des Stadtmarketingverbands, in diesem Beitrag. 

Status Quo in Österreich

Österreichische Städte schneiden laut dieser Erhebung bei der Umsetzung der 15-Minuten-Stadt im internationalen Vergleich gut ab. Graz führt das Ranking an, wo 92 Prozent der Einwohner alle wesentlichen Einrichtungen zu Fuß in 15 Minuten erreichen können, gefolgt von Wien mit 91 Prozent. Auch Innsbruck liegt mit 89 Prozent im oberen Bereich, während Klagenfurt mit weniger als 70 Prozent das Schlusslicht bildet.

Faktoren wie historische Stadtentwicklung und geografische Besonderheiten beeinflussen die Erreichbarkeit: So benötigen Bewohner von Stadtteilen auf Berghängen wie dem Kapuzinerberg in Salzburg oder dem Wienerwald typischerweise mehr Zeit.

In der Zwischenzeit wird in Österreich vielerorts aktiv an der Stadt der kurzen Wege gearbeitet. Exemplarisch möchten wir diese drei Städte und ihre Maßnahmen hervorheben:

  • Wien strebt im Rahmen seiner „Smart Klima City Strategie“ die Umsetzung der 15-Minuten-Stadt an, um das Leben seiner Bürger:nnen nachhaltiger und komfortabler zu gestalten. Dabei soll der Bedarf an Mobilität verringert und der Verkehr auf umweltfreundliche Verkehrsmittel wie Busse, Straßenbahnen und Fahrräder verlagert werden.
    Ein neues Straßenraumkonzept sorgt für mehr Grün, sichere Fuß- und Radwege sowie ausreichend Platz für den öffentlichen Verkehr. Wien fördert zudem Sharing-Angebote über die Plattform WienMobil und setzt auf umweltfreundliche Antriebe. Ziel ist es, dass alle wichtigen Angebote – Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit – in unmittelbarer Nähe erreichbar sind und digitale Technologien flexibles Arbeiten unterstützen.
  • In Linz wird das Gehen als nachhaltige Mobilitätsform aktiv gefördert, um die Lebensqualität in der Stadt zu steigern. Mit dem geplanten „Masterplan Gehen“ möchte die Stadtregierung die Infrastruktur für Fußgänger:innen verbessern und sicherer gestalten.
    Der Fokus liegt auf der Erhöhung der Aufenthaltsqualität entlang der Gehwege durch mehr Sitzgelegenheiten, Barrierefreiheit und beschattete Bereiche, was insbesondere älteren Menschen zugutekommt.
    Bis zum Frühjahr 2025 wird eine Ist-Analyse durchgeführt, um Schwachstellen im Fußgängernetz zu identifizieren und Leitprojekte zu entwickeln, die rasch umgesetzt werden können. Dabei wird auch die geschlechtergerechte Gestaltung berücksichtigt, um das subjektive Sicherheitsgefühl für alle Fußgänger:innen zu erhöhen.
  • Salzburg: Mit dem „Masterplan Gehen“ will Salzburg die Innenstadt für Fußgänger:innen attraktiver und sicherer gestalten. Mehrere Begegnungszonen, breitere Gehwege und schnellere Fußgängerampeln sind Teil des Projekts, das bis 2025 realisiert werden soll.
15MinStadtSalzburg old-graveyard (c) pixabay_Hansjpg
Zu Fuß gehen hat in den Gassen Salzburgs Tradition, soll aber mit dem „Masterplan Gehen“ weiter forciert werden (c) pixabay.com/Hansjpg

Fazit

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt eröffnet nicht nur großen Metropolen, sondern auch Kleinstädten und ländlichen Regionen neue Perspektiven für eine lebenswerte Gestaltung urbaner Räume. Durch die Schaffung von kurzen Wegen zu wichtigen Dienstleistungen und Einrichtungen wird die Lebensqualität der Bewohner erhöht und die Abhängigkeit vom Auto verringert.

Österreichische Städte wie Graz, Wien und Innsbruck, schneiden im internationalen Vergleich bereits gut ab. Diese positiven Beispiele zeigen, dass eine intelligente Stadt- und Verkehrsplanung auch in mittelgroßen und kleineren Städten umsetzbar ist, um die Bedürfnisse aller Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen.

Der Ansatz der 15-Minuten-Stadt fördert nicht nur die Mobilität, sondern stärkt auch das Gemeinschaftsgefühl und die soziale Interaktion unter den Bewohner:innen. Die Herausforderung liegt darin, innovative Lösungen zu entwickeln, die an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten angepasst sind. So kann die Vision einer nachhaltigen und menschenfreundlichen Stadt für alle Realität werden.

 

Daniela Limberger Vorstandsmitglied des Dachverbandes Stadtmarketing Austria

Daniela Limberger

Geschäftsführerin Agentur für Standort und Wirtschaft Leonding GmbH

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