„Der 15-Minuten-Ort“ – Michael Gsaller im Interview
05.09.2023
Wirtschaft
05.09.2023
Wirtschaft
Michael Gsaller, Geschäftsführer vom Stadtmarketing Hall in Tirol und Vorstandsmitglied im Dachverband Stadtmarketing Austria, im Gespräch mit Mauro Stoffella, dem Leiter des Bereichs Kommunikation im Südtiroler Wirtschaftsverband hds, über den 15-Minuten-Ort, den Gesundheitszustand von Orten und Städten, die Weiterentwicklung lebendiger Innenstädte und die Rolle des digitalen Zeitalters für die Orte. Das Interview wurde im Rahmen der 2. Südtiroler Akademie für Orts- und Stadtentwicklung geführt und im Wirtschaftskurier veröffentlicht.
Michael Gsaller: Wenn wir einmal nur (Mittel)europa betrachten, so gibt es hunderte oder tausende Städte und Orte, die groß und klein, reich und arm, schrumpfend und boomend, aktiv und lethargisch sind. Ich will damit sagen, dass es so viele Gesundheitszustände wie Städte gibt.
Tatsache ist, die Zukunft wird in einem Ort gemacht, die Innovation kommt aus der Stadt. Die Demokratie hat den Ausgangspunkt in der Stadt, im Guten wie im Schlechten. Es ist faszinierend, dass die BürgermeisterInnen der (großen) Städte realpolitisch mächtiger, innovativer und einflussreicher sind als die KanzlerInnen und PräsidentInnen der Staaten.
Es ist klug, wenn sich Städte und Orte auf ihre kulturelle Kraft besinnen. Auf die Problemlösungskompetenz für ihre BürgerInnen, wenn sie ein gutes Zusammenleben organisieren. Fälschlicherweise bringen wir Orte zu oft in Zusammenhang mit „Handel“, „Frequenzproblemen“ oder im anderen Extrem mit „Overtourism“. Die meisten Städte haben aber ganz andere Herausforderungen.
Wir sollten uns bewusst sein, dass es wichtiger ist, in den Orten eine gute Gesundheitsversorgung oder ein umfassendes Bildungsangebot zu haben, als dass es neben dem einen Textilanbieter noch einen weiteren geben sollte.
Michael Gsaller: Da gibt es sehr viele Beispiele: Hybride Angebote (wenn etwa der Textilhändler auch eine Cafeteria, ein Tattoostudio, einen Barbershop anbietet oder Verkaufsregale mit Pop up-Artikeln hat). Die Veränderung des Unternehmertums, Arbeitskräftemangel, vielerorts Schrumpfung des Angebots (drückt sich z.B. durch bewusste Verkürzung von Einkaufsstraßen aus).
Ein größer werdender Anteil des Gastroangebotes am Gesamtmix, die Verdrängung des Autos, die Erreichbarkeit mit zum Auto alternativen Verkehrsmitteln wird wichtiger (Fahrrad, Fahrradständer/-boxen, zu Fuß, Gehwege, Öffis, Anbindung/Takt), weg vom Versorgungseinkauf hin zum Erlebniseinkauf.
Weitere Beispiele sind die Eventisierung der Innenstädte, bewusstes Zurückholen von Bildungseinrichtungen (versus Bildungscampus auf der grünen Wiese), Städte setzen wieder bewusst auf Kultureinrichtungen, verstärkte Nutzung öffentlicher Flächen durch Gastronomie („Cappuccino-Kultur“ breitet sich in europäischen Innenstädten massiv aus).
Michael Gsaller: Auch wenn uns der Internethandel mit seiner riesigen Werbemaschinerie täglich von seiner Wichtigkeit erzählen will: Den Tatsachen entspricht das nicht. Die Ortszentren sind nach wie vor die Hochburgen des Handels und des Konsums.
Wenngleich sich der Versorgungseinkauf vermehrt in das Internet verlagern wird. Die Menschen sehnen sich auf der anderen Seite nach dem Erlebniseinkauf. Eine schöne Auslage, eine gute Bedienung, Vertrauen in den/die UnternehmerIn, die persönliche Ansprache, das Markterlebnis werden immer nachgefragt werden.
Die Menschen werden immer die Attraktivität eines Ortes nachfragen. Der Mensch lebt von Spannung und Entspannung, das liegt in seinem Naturell und das wird im stationären Handel besser befriedigt. Selbst wer oft von der Couch aus bestellt, wird irgendwann nach Abwechslung suchen – und die findet er in einem Ortszentrum.
Michael Gsaller: Eine lebendige Stadt bietet eine Mischnutzung. Wir fühlen uns in einem Ortszentrum wohl, das alle Lebensbereiche in einer relativen Nähe abbildet. Wohnen, Freizeit, Arbeit, Einkaufen, Sport, Kultur und Gesundheit. In einer monofunktionalen Stadt, also z. B. im Finanzdistrikt, will doch keiner sein.
Nicht umsonst sprechen wir von der 15-Minuten-Stadt, in der alle wichtigen Einrichtungen vorhanden sind und in einer attraktiven Zeit erreichbar sind. Es muss auch wieder eine Rückkehr zum „menschlichen Maß“ geben. Der Mensch muss der Maßstab für die Stadt sein.
Michael Gsaller: Es ist unrealistisch, dass die stationären HändlerInnen nun alle zusätzlich einen Onlinehandel aufziehen werden. Die Herausforderung alleine an die Warenwirtschaft wäre schon zu groß. Ebenso ist es sinnlos, dass Städte oder Staaten versuchen, Verkaufsplattformen nachzubilden.
Unumgänglich wird es jedoch für die Unternehmen und auch die öffentliche Hand sein, digital auffindbar zu sein – und da gibt es noch viel zu tun. Unternehmen ohne ordentliche E-Mail-Adresse, ohne Homepage, ohne einen Google my Business-Eintrag werden es schwer haben.
Als KonsumentIn stelle ich ja nicht gleich den Anspruch, online bestellen zu können. Aber Basisinformationen wie die Öffnungszeiten sollte ich schon online finden können. Das klingt wie eine banale Forderung. Es ist aber eine Tatsache, dass ein gar nicht so kleiner Teil der städtischen UnternehmerInnen digital nicht mit dem Grundlegendsten ausgestattet ist.
Wir in Hall bieten den Unternehmen kostenlos den „Digital-Lotsen“ an, eine Beratung in allen Belangen der digitalen Welt. Weil wir der Auffassung sind, dass eine diesbezügliche Verbesserung im öffentlichen Interesse liegt.
Michael Gsaller: Eine umfassende Nachhaltigkeit ist das Gebot der Stunde. Wir müssen uns bei jeder Aktion, die wir setzen fragen, ob sie auf die Marke unseres Ortes einzahlt. Ohne Nachhaltigkeit wird sie das nicht tun.
Den großen Aufgabenbereich der Nachhaltigkeit zu beachten ist also nicht nur eine existenzielle Frage für die Menschheit, sondern heruntergebrochen auch eine Voraussetzung für gutes Marketing.
Michael Gsaller: Der Trend geht derzeit sicher in Richtung Verdrängung des Autos – unabhängig von seiner Antriebsart. Ein Ort muss jedoch „erreichbar“ sein – wie immer das nun im Einzelfall gelöst wird.
Verbote und Gebote sind das eine, der gesellschaftliche Wandel muss und wird dahin gehen, dass es „schick“ ist, zu Fuß oder mit dem Fahrrad in den Ort zu fahren bzw. sich darin zu bewegen.
Man sollte am lokalen Bauernmarkt einkaufen, aber besser mit dem Fahrrad hinfahren als mit dem SUV. Konsequenz daraus ist eine gewisse Entschleunigung im Alltag. „Zu spät kommen“ ist eigentlich eine Auszeichnung.
Michael Gsaller: Wenn man genau hinschaut, hat die Stadt in vielen Bereichen ländliche Merkmale angenommen. Das sogenannte Land ist eigentlich verstädtert. Man würde traditionell sagen, auf dem Land kennt jeder jeden und in der Stadt ist alles so anonym.
Einer Überprüfung hält das vielerorts nicht (mehr) stand. Am Land vereinsamen doch viele und in der Stadt gibt es oft viel mehr zwischenmenschliche Nähe. Andererseits ist doch auch so, dass viele ländliche Gegenden mittlerweile derart gut erschlossen sind, dass sie eigentlich verstädtert sind und die Kirchtürme nur mehr in den Köpfen existieren.
In Nord- und Südtirol wird sich jede/r EinwohnerIn in einer Selbsteinschätzung entweder dem urbanen oder dem ruralen Raum zuordnen. Aus der Vogelperspektive betrachtet leben wir jedoch alle in einem der besterschlossenen, dichtest besiedelten und wohlhabendsten Ballungsgebiete Europas.
Alle Fotos (c)Watzek Photografie
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