Bibliotheken: Wie sich das Konzept des „Dritten Ortes“ in die Praxis umsetzen lässt
10.08.2022
Gesellschaft
10.08.2022
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Bibliotheken entwickeln sich im Zuge der Digitalisierung und dem daraus resultierenden Verlust des Informationsmonopols zunehmend zu Kommunikationszentren mit hoher Aufenthaltsqualität und vielfältigen Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Im Kontext dieses Transformationsprozesses fällt häufig der Begriff des „Dritten Ortes“, der im Folgenden näher beleuchtet werden soll.
Das Begriff des Dritten Ortes wurde Ende der 1980er Jahre von dem amerikanischen Stadtsoziologen Ray Oldenburg geprägt. Er versteht darunter neben dem eigenen Zuhause (Erster Ort) und dem Arbeits- bzw. Ausbildungsort (Zweiter Ort) einen öffentlichen Raum, der Kommunikation und kollaboratives Arbeiten ermöglicht.
Während aber Oldenburg den dritten Ort auf Grundlage gesellschaftlicher Bedürfnisse definiert, kommt bei öffentlichen Bibliotheken auch ein politischer Auftrag in Hinblick auf Information, Bildung, Kultur und soziale Integration hinzu. Öffentliche Bibliotheken müssen deshalb Oldenburgs Konzept anpassen oder erweitern, um die Vielzahl von Ansprüchen zu erfüllen und der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung gerecht zu werden.
Erfolgreiche Bibliotheken als Dritte Orte sind vor allem in den Niederlanden, Skandinavien und und den angelsächsischen Ländern zu finden. Zu den bekanntesten zählt die Openbare Bibliotheek von Amsterdam als Europas größte Öffentliche Bibliothek.
In den vergangenen Jahren haben zunehmend auch Bibliotheken im deutschsprachigen Raum neue Konzepte oder einzelne Maßnahmen umgesetzt, um sich als dritter Ort zu positionieren. Insbesondere neue Einrichtungs- und Veranstaltungskonzepte machen deutlich, wie sich das Selbstverständnis der Bibliotheken hin zum dritten Ort gewandelt hat.
Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Konzepte ist die Frage, wie erreicht werden kann, dass sich BürgerInnen vom Bibliotheksangebot inspirieren lassen und die Bücherei als „Dritten Ort“ annehmen.
Für die erfolgreiche Umsetzung ist es somit entscheidend, eine Umfeldanalyse durchzuführen, um die Zielgruppen und deren Bedarf zu identifizieren. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass Angebote entwickelt werden, die auf entsprechende Resonanz bei den Zielgruppen treffen.
Im ersten Handlungsfeld geht es um Überlegungen, welche Kernaufgaben die Bibliothek erfüllt und wie diese attraktiver präsentiert und gestärkt werden können. Zu diesen Kernaufgaben gehören beispielsweise die Lese- und Sprachförderung, die Vermittlung von Informationskompetenz und digitale Fragestellungen im Sinne von Medienbildung.
Diese Aufgabenbereiche werden meist unter dem Begriff Lernort oder Bildungsort zusammengefasst. Eine erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgaben setzt intensive Kontakt- und Kooperationsarbeit mit PartnerInnen aus dem Bildungsbereich (Grundschulen, weiterführende Schulen, Volkshochschulen, Bildungsdirektion usw.) voraus.
Ein Beispiel ist etwa die Beteiligung von Bibliotheken an Bildungsoffensiven wie MINT-Programmen, um bei Kindern und Jugendlichen das Interesse für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu wecken. Zahlreiche Bibliotheken in Vorarlberg und Salzburg haben ihr Angebot bereits um MINT-Forscherspaces erweitert.
Im zweiten Handlungsfeld steht die Auseinandersetzung mit der Gestaltung und Ausstattung der Bibliothek im Fokus. Dazu zählt neben einem attraktiven, zielgruppengerecht ausgewählten, vielseitigen Medienbestand auch die Attraktivität und Aufenthaltsqualität der Einrichtung.
Vielfach sind Raumveränderungen und neues Mobiliar erforderlich, um Kommunikation und Miteinander zu fördern. Gemütliche Aufenthaltsbereiche, funktionale Arbeitsplätze, eine ausreichende Zahl an PCs oder Laptops sowie kostenloses WLAN sind nur einige der Basics in diesem Kontext.
In manchen Konzepten wird auch das Umfeld der Bibliothek für die Entwicklung eines Dritten Ortes umgestaltet. Die neue Bibliothek von Dornbirn ist zum Beispiel als Ort des Austauschs, der Begegnung und des generationenübergreifenden Lernens konzipiert. Der ovale, parabelförmige Bau fügt sich in das Quartier des Marktplatzes zwischen Stadthalle, Stadtgarten und Schulbauten ein.
Um die Funktion der Bibliothek als offenen Treffpunkt zu stärken, hat die Stadtplanung den Neubau zum Anlass genommen, die Straße vor der Bibliothek als Begegnungszone zu gestalten. Für Bibliotheken bieten solche Konstellationen vielfältige Chancen, sich über den eigenen Bereich hinweg zu vernetzen und Bibliotheksangebote in größeren Dimensionen zu denken. Interessante Einblicke in das Projekt bietet der Artikel Mut in der Provinz von Bibliotheksleiterin Ulrike Unterthurner.
Eine Bibliothek ist heute weit mehr als nur ein Haus für Bücher. Neue Medien, die zunehmende Digitalisierung unseres Alltags sowie die damit verbundene Veränderung unserer gesamten Lese- und Kommunikationskultur haben dazu geführt, dass eine Bibliothek heute eine Art öffentliches Wohnzimmer ist, in dem neugierige Menschen mit ähnlichen Zielen zusammenkommen und sich mal zurückgezogen in die Materie vertiefen, mal miteinander ins Gespräch kommen können.
Peter Nussbaumer, Architekt und Projektleiter Bibliothek Dornbirn (Dietrich Untertrifaller Architekten)
Im Mittelpunkt des dritten Handlungsfeldes stehen neue Angebote, die bisher nicht vorhanden waren und die auch nicht unbedingt direkt mit der Bibliothek verbunden sein müssen. Hierzu zählen neben einem Café zum Beispiel die Einrichtung von Makerspaces, Repaircafes oder multifunktionalen Bereichen für gemeinschaftliche Aktivitäten (Workshops, Vorträge, Veranstaltungen).
Wer Jugendliche verstärkt ansprechen möchte, sollte neben einer jugendgerechten Gestaltung auch moderne Ausstattungen wie 3D-Drucker, Virtual Reality- und Gaming-Equipment, programmierbare Roboter und dergleichen in Betracht ziehen. Als Inspirationsquelle kann diesbezüglich die spektakuläre Jugendbibliothek Biblo Tøyen in Oslo dienen.
Mehr dazu in folgendem Video: https://www.youtube.com/watch?v=qsB-V1VX7LI
Weiters ist die Entwicklung von Plattformen für bürgerschaftliches Engagement denkbar, z. B. Angebote zur Unterstützung bei der Integration von MigrantInnen oder Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen (z.B. die demenzfreundliche Bibliothek in Wiener Neustadt).
Ein noch relativ wenig diskutiertes Thema ist die Unterstützung von wohnungs- und arbeitslosen Menschen. In Anbetracht der aktuellen Situation in Europa könnte dies bald ein wichtiges Thema für Bibliotheken werden.
Eine Fülle an Informationen und Praxisbeispielen zur Angebotsgestaltung finden Sie in der Fachzeitschrift des Österreichischen Büchereiverbands „Büchereiperspektiven“. In jeder Ausgabe gibt es ein aktuell aufbereitetes Schwerpunktthema sowie einen Informations- und Serviceteil mit Aus- und Fortbildungsterminen, Hinweisen auf neue Fachliteratur und Berichten aus den Bibliotheken und von Tagungen.
Die Einbeziehung der BibliotheksnutzerInnen in die Gestaltung der Bibliotheksangebote ist ein wichtiger Aspekt bei der Entwicklung für Konzepte des Dritten Ortes. Erste Erfahrungen mit der Neuadaptierung von Bibliotheken haben gezeigt, dass Angebote wie z.B. Bibliothekscafés nicht immer angenommen oder zur Kommunikation genutzt wurden. Durch die Einbindung von NutzerInnen, aber auch Nicht-NutzerInnen, konnten hingegen sehr gute Ergebnisse erzielt werden.
In den vergangenen Jahren hat sich der niederländische Designer Aat Vos mit der partizipativen Entwicklung neuer inhaltlicher Konzepte auf Basis der Design Thinking-Methode einen Namen gemacht. Vos beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Dritten Orten und hat sich auf die Umgestaltung von Bibliotheken spezialisiert.
Zu Vos Projekten gehören unter anderem die zuvor genannte Jugendbibliothek Biblo Tøyen in Oslo, die Kalker Stadtteilbibliothek (2018) in Köln oder die als Open Library konzipierte Stadtteilbücherei Hubland in Würzburg (2019). Wer wissen möchte, wie ein Design Thinking-Prozess in diesem Kontext aussehen kann, findet dazu einen Bericht der Stadtbücherei Hubland mit dem Titel Identifikation statt Perfektion.
Wir arbeiten am liebsten mit lokalen Akteuren, lokalen Fachleuten, Künstlern und Handwerkern zusammen. Nur so kann ein Ort wirklich ein lokaler Ort werden, mit einer eigenständigen, einzigartigen Identität. Nur ein lokaler Akteur kennt sich richtig aus, kennt die lokale Geschichte und den Hintergrund eines Ortes, fügt diesen Lokalkolorit oft unbewusst seiner Arbeit hinzu – und macht den Ort damit nur stärker. Und natürlich aktivieren sie weitere Akteure, die sich dann ebenfalls engagieren.
Aat Vos im Interview mit CREATIVE.NRW
Wenn Bibliotheken als Drehscheibe der Gemeinschaft dienen sollen, müssen sie an zentralen und mit Leben erfüllten Orten gelegen sein. So bietet zum Beispiel der Wissensturm Linz die Integration von Stadtbibliothek, Volkshochschule, Medienwerkstatt, Restaurant und Dienstleistungen. Die Bibliothek ist hier nicht eine isolierte Institution, sondern Teil einer breiten städtischen Angebotsplattform.
Ein zukunftsweisendes Projekt ist auch in Wiener Neustadt zu finden. Dort wurde 2019 die Stadtbücherei Wiener Neustadt als Teil des neuen City Campus mit der Fachhochschule Wiener Neustadt fusioniert. Die Bibliothek im Zentrum ist die erste öffentliche und wissenschaftliche Bibliothek Österreichs. Die Bibliothek trägt zu einer Belebung der Innenstadt bei und hat gleichzeitig völlig neue Möglichkeiten für die BürgerInnen geschaffen.
Dritte Orte leben von der Kooperation und Vernetzung mit anderen Institutionen, Vereinen und Personen. Vernetzungsarbeit ist sehr zeitintensiv, ebenso die Programmerarbeitung und -durchführung. Um diese Aufgaben wahrnehmen zu können, braucht es ausreichendes Personal mit den erforderlichen Kompetenzen. Bibliothekare sind je nach Aufgabengebiet auch Literatur- oder MedienpädagogInnen, VermittlerInnen und Entertainer.
Mit dem Einzug digitaler Medien in Bibliotheken haben sich auch die Anforderungen an die digitalen Kompetenzen von BibliothekarInnen geändert.
Ein grundlegendes technisches Verständnis in Bezug auf digitale Leseförderung, der Umgang mit eBook-Readern, Gaming-PCs und anderen elektronischen Geräten, qualifizierte Recherchen im Internet oder der Einsatz von Tablets bei Bibliotheksführungen gehören mittlerweile zum Standard-Repertoire moderner Bibliotheken. Die Bereitschaft zur kontinuierlichen Aneignung neuer Technologien wird deshalb auch für Bibliothekare immer wichtiger.
Ein Merkmal des Dritten Ortes sind lange, nutzerfreundliche Öffnungszeiten. Das bedeutet, dass viele Bibliotheken ihre Öffnungszeiten erweitern müssen. Dafür braucht es aber MitarbeiterInnen, die gerade kleinere Bibliotheken meist nicht leisten können.
Einen Lösungsansatz zur Schaffung zusätzlicher Öffnungszeiten bietet hier das Open Library-Konzept durch Nutzung RFID-gestützter Ausleihtechnik oder die Kooperation mit einem Partner, z.B. einer räumlich nicht getrennten Bäckerei oder einem Café.
Für eine digitale Lösung ist allerdings technisch mehr erforderlich als nur eine automatisierte Zugangskontrolle. Dazu gehören zum Beispiel Selbstverbuchung, Lichtsteuerung, Videokameras, Alarmanlagen und eine zentrale Software, die dies alles steuert.
Traditionelle Bibliothekskonzepte sind angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und gesellschaftlicher Veränderungen ein Auslaufmodell. Das Konzept des Dritten Ortes kann als Orientierungsleitfaden dienen, um zeitgemäße Bibliotheken zu entwickeln und diese als Drehscheibe und verlässliche Basis der kommunalen Gemeinschaft zu positionieren.
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Titelbild: Stadtbibiliothek Dornbirn, Ein Gemeinschaftsprojekt von Dietrich Untertrifaller Architekten (Bregenz) und Christian Schmoelz Architekt (Röthis), © Albrecht I. Schnabel
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