Barrierefreiheit im öffentlichen Raum: Ein Status Quo
13.11.2019
Architektur, Gesellschaft
13.11.2019
Architektur, Gesellschaft
Wenn es um Barrierefreiheit im öffentlichen Raum geht, sagt Martin Essl von der Stiftung Zero Project, fällt wohl den meisten von uns sofort ein: Rampen für Rollstuhlfahrer. Vielleicht noch: größere Toiletten, breitere Türen und Duschtassen ohne Stufe. Und wer aus der Baubranche kommt, verbindet das Thema mit Vorschriften und Zwang.
Dabei ist Barrierefreiheit eine der faszinierendsten Entwicklungen unserer Zeit. Nimmt man alle Menschen zusammen, dann kommt man ohne viel Nachrechnen auf ein Viertel aller Österreicher, die irgendwie eingeschränkt sind.
15 Prozent haben nach Selbsteinschätzung eine Behinderung, dazu die Einschränkungen im Alter, aufgrund von sprachlichen Barrieren (Kinder, Migration) oder auch nur als Eltern von Kleinkindern oder nach Unfällen.
Denn sie schließt alle Lebensbereiche ein, sei es Wohnen, Einkauf, Freizeitgestaltung, Mobilität oder Kommunikation, mit neuen Technologien als einem der wichtigsten Antriebsfaktoren.
Die Essl Foundation hat sich mit dem Zero Project ganz der weltweiten Erforschung und Verbreitung von Innovationen verschrieben, die Barrierefreiheit – oder auch Bildung und Beschäftigung – unterstützen.
Michael Pichler vom Zero Project Team berichtet von vorbildhaften Projekten und streicht besonders die Aktivitäten der Stadt New York hervor: „Victor Calise ist im Mayor’s Office von New York City für die Anliegen von Menschen mit Behinderung verantwortlich. Selbst im Rollstuhl sitzend, arbeitet er auf ein großes Ziel hin. Calise möchte New York zur behindertenfreundlichsten Stadt der Welt machen.“
Rund 30 Mitarbeiter zählt das Büro in New York City, das sich um die Anliegen von Menschen mit Behinderung kümmert. Bis 2020 sollen hundert wichtige Stationen des öffentlichen Verkehrs barrrierefrei zugänglich sein. Calise und sein Team arbeiten eng mit dem Staat New York zusammen, der für das U-Bahnnetz verantwortlich ist, um weitere Stationen barrierefrei zu machen.
Calise: „Unser Bussystem in New York ist bereits jetzt hundertprozentig barrierefrei. Jeder Fahrer ist ausgebildet, um Menschen mit Behinderung zu unterstützen. Wir haben schon 1.000 barrierefreie Taxis im Einsatz, weitere 1.000 werden noch kommen. Die Taxivermittlung ist natürlich ebenfalls barrierefrei.
Kunden können via App oder telefonisch ein rollstuhlgerechtes Taxi bestellen. In den Taxis gibt es ein Bezahlsystem für Menschen mit Sehbehinderung. Und auch unsere Fähren, die zwischen fünf Piers pendeln, sind komplett barrierefrei.“
Calises Antwort auf diese Frage verwundert nicht, denn sie zeugt von zielstrebiger Denkweise, die wir aus den USA kennen: „Wir sind in einer der höchsten Positionen der Stadtverwaltung angesiedelt, nämlich im Büro des Bürgermeisters von New York City. Da müssen wir keinen Druck machen, sondern lassen die Leuten wissen, dass wir hier sind und dass wir uns für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzen.
Wir haben ein Team, das viele Wege weiß, um Veränderungen zu starten. Zu unseren Aufgaben gehört auch, darauf zu achten, dass jedes neue Gesetz und jede Verordnung den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung entspricht.“
Maria Grundner von der Mobilitätsagentur, das Pendant zu Calise in Wien, antwortet subtiler: „Mein Rat an Bürgermeister und Stadtentwickler lautet, dass man einfach beginnen sollte, sich mit Barrierefreiheit zu beschäftigen. Sie sollen sich die Frage stellen: Habe ich das Thema bei meinen Planungen mitgedacht?“
Grundner arbeitet seit vielen Jahren in der Mobilitätsagentur, die der Stadt Wien gehört. Sie wird geleitet vom Fahrradbeauftragten und der Fußgängerbeauftragten, erklärt Grundner. Sie selbst ist für den Fußverkehr für Menschen mit Behinderungen zuständig. Ihr Arbeitsfeld ist wienweit.
„Wenn es aber um die Entwicklung von Richtlinien zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum gibt, denken wir österreichweit“, sagt Grundner. Sie sitzt wie Calise ebenfalls im Rollstuhl: „Wenn man selbst auf Barrierefreiheit angewiesen ist und Zugang zu vielen Menschen mit den unterschiedlichsten Einschränkungen hat, sieht man, wie breit Barrierefreiheit zu fassen ist.“
Grundner rät: „Wir müssen vor allem für Menschen mit Sehbehinderungen viel tun, damit diese autonom und selbstbestimmt alleine unterwegs sein können. Für intellektuell eingeschränkte Personen kennt man die Barrierefreiheit als Interessensvertretung noch nicht, weil sie Schwierigkeiten haben, sich selbst zu vertreten. Wenn man sie reden und partizipieren lässt, bekommt man aber ihre Stimmen.“
In der baulichen Barrierefreiheit denke man diese Gruppe noch viel zu wenig mit. Man wisse, dass sich Menschen, die Orientierungsprobleme haben, durch Farben, Formen und verständliche Ansagen gut zurecht finden. Grundner: „Ich fände gut, wenn die Stationen nicht nur beim Praterstern, beim Stephansdom und beim Zoo ein Symbol neben dem Stationsnamen hätten.“
Wer einen guten Überblick über barrierefreie Projekte hat, ist die Organisation ÖZIV, empfiehlt Maria Grundner. Lisa Gittmaier von ÖZIV: „Der ÖZIV Bundesverband ist Anlaufstelle bei Fragen bzw. zur Beratung und Unterstützung bei Vorhaben zur Verbesserung der Barrierefreiheit. Wir bieten:
Ich möchte besonders das Projekt ‚Naturerleben für alle‚ aus Kärnten erwähnen. Hier handelt sich um barrierefreie Wanderungen bzw. Wanderwege, damit alle Menschen Zugang zur Natur haben.“
Michael Pichler von Zero Project ist eine Quelle richtig guter Beispiele von barrierefreier Stadtentwicklung.
Die Marienapotheke in Wien gilt als wegweisendes Unternehmen, wenn es um die Einstellung gehörloser Arbeitnehmer geht. 8.000 bis 10.000 Menschen in Österreich sind bei ihrer Kommunikation auf das Auge angewiesen. Sie haben entweder kein Gehör oder ein äußerst eingeschränktes Hörvermögen.
Dazu kommt, dass sie oft nicht in der Lage sind zu sprechen. Sprache beruht auf Nachahmung. Wenn das Hörvermögen geschädigt ist, leidet auch die Lautbildung, erklärt die Homepage der Apotheke.
2008 wurde in der Marienapotheke der erste gehörlose Lehrling ausgebildet. Ein Gebärdensprache-Dolmetscher hatte ihn bei der Prüfung der Apothekerkammer unterstützt. Der junge Mann bestand mit Auszeichnung. Schon bald darauf kam der zweite gehörlose Lehrling.
Immer mehr gehörlose Lehrlinge ließen sich zu pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenten in der Apotheke ausbilden. Inzwischen ist das Team an gehörlosen Apothekern und Assistenten groß. Dadurch hat sich die Marienapotheke in den letzten Jahren auch zur Anlaufstelle für gehörlose Konsumenten entwickelt und erhebliche Umsatzsteigerungen eingefahren.
Die Behindertenbeauftragte der Stadt Salzburg, Sabine Neusüß, empfiehlt: „Die Erarbeitung eines Etappenplans hilft bei der stufenweisen Umsetzung von Maßnahmen. In der Stadt Salzburg war das ein großer Prozess. Die Maßnahmen sind notwendig, um die UN Konventionen für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum einzuhalten. Wir haben ihn in enger Abstimmung mit dem Beirat für Menschen mit Behinderung, mit SelbstvertreterInnen und mit interessierten Privat-Personen erarbeitet. Es sind über 100 Maßnahmen entstanden.“
„Ein tolles Projekt, das eine Vorreiter-Rolle einnimmt“, führt Neusüß fort, „ist das Salzburg Museum am Mozartplatz. Es widmet sich dem weniger bekannten und selten umgesetzten Prinzip der Leichten Sprache als Mittel, um Barrierefreiheit zu schaffen. Die Herangehensweise soll auch für Kunstprojekte im öffentlichen Raum und andere Interventionen im öffentlichen Raum, die Erklärungsbedarf haben, Vorbild sein.“
Welche Haltung, welche Motivation steht hinter der Verwendung der Leichten Sprache? Welche Hürde kann Sprache sein und wen kann sie „behindern“? Was ist eigentlich Leichte Sprache und welche Dinge muss man beachten, wenn man Leichte Sprache anbieten möchte?“ Ein Museumsbesuch im Salzburg Museum zeigt das selbsterklärend.
Seit im Jahre 2009 durch die UN-Konvention das Recht auf kulturelle Teilhabe zum Menschenrecht erklärt wurde, kommen auch in der Museumslandschaft immer häufiger Diskussionen über das Thema „Inklusion“ auf. Während BefürworterInnen die Vorteile inklusiver Museen preisen, befürchten KritikerInnen eine Trivialisierung. Fakt ist: Es geht hier nicht nur um eine neue Museums-Zielgruppe, vielmehr geht es um einen gesetzlichen und menschenrechtlichen Auftrag. Dieser Auftrag wird aktuell vom Salzburg Museum, aus Überzeugung ernst genommen und in bestmöglicher Qualität umgesetzt.
Das Museum ist ein Vorbild für Barrierefreiheit im Kultursektor und bietet leicht verständliche Erklärungen der Kunstwerke, Führungen für Blinde, Leihrollstühle und vieles mehr.
Mit dem Access City Award werden die Bereitschaft, die Fähigkeit und die Bemühungen einer Stadt, barrierefreier zu werden, anerkannt und gefeiert, um
Die Stadt Breda ist die Gewinnerin des Access City Award 2019. Breda hat 185.000 Einwohner. Breda hat einen Vierjahresplan (2018-2021) aufgestellt, um eine Umgebung zu schaffen, in der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum die Norm ist. Außerdem überwacht die Stadt durch „Breda Gelijk!“, ihre Organisation für Menschen mit Behinderungen, Initiativen für Barrierefreiheit.
In den vergangenen drei Jahren hat Breda Gelijk! die Zugänglichkeit von über 800 Geschäften und Gaststätten geprüft. Durch dieses Verfahren wurde nicht nur die Barrierefreiheit verbessert, sondern auch das Bewusstsein der Geschäftsinhaber, Gastronomen und anderer städtischer Unternehmer für Zugänglichkeitshindernisse geschärft.
Sämtliche Websites von Breda, die sich an Stadtbewohner und Touristen richten, wurden im Hinblick auf ihre Zugänglichkeit geprüft, um sicherzustellen, dass eine einheitliche Sprache verwendet und ein einheitliches Konzept verfolgt wird. Die Website-Entwickler haben sich dabei von blinden und sehbehinderten Menschen beraten lassen.
Im Kulturbereich veranstaltet eine örtliche Theatergruppe jährlich ein Event, bei dem auf die Talente und das Potenzial von Schauspielern mit geistiger Behinderung aufmerksam gemacht wird, während die Bibliothek Produkte für Menschen mit geringer Lesekompetenz entwickelt. Menschen mit Behinderungen werden in jede Phase der Projekte und Initiativen der Stadt eingebunden.
Es gibt noch viele Hürden, die zu beseitigen sind. Blindenleitsysteme werden oft missbraucht, z.B. im Winter zur Ablagerung für Schnee oder von Handwerkern, die ihre Maschinen darauf abstellen. E-Mietroller stehen und liegen kreuz und quer über Gehsteigen, Geschäfte haben noch immer Stufen im Eingangsbereich. Hindernisse machen die Nutzung des öffentlichen Raumes für blinde Menschen stressig und gefährlich.
Auch der Österreichische Behindertenrat bietet beispielsweise eine Arbeitsgemeinschaft für inklusive Planungsprozesse an. Dort setzen sich Menschen mit Behinderungen ein, die für sie spezifischen Barrieren zu vermeiden. Bei frühzeitiger, kontinuierlicher Einbindung von Menschen mit Behinderungen können schließlich Barrieren vermieden werden und Barrierefreiheit im öffentlichen Raum gewährleistet werden.
Stadt Salzburg
Barrierefreiheit Servieren – Stadt Graz
https://www.graz.at/cms/dokumente/10026599_8271801/aec98478/barrierefrei_gastro_gastgaerten.pdf
Und ein Link zu anderen Blogs zu diesem Thema:
Barrierefreiheit – Wo entstehen und wie eliminieren wir Barrieren?
Beitragsbild Copyright: Joshua Trujillo / Starbucks Newsroom
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