Ortskerngestaltung: Wesentliche Aspekte, die zu einer hohen Aufenthaltsqualität beitragen
22.06.2022
Architektur, Gesellschaft
22.06.2022
Architektur, Gesellschaft
Stadt- und Ortskerne haben für das öffentliche Leben in Kommunen eine zentrale Bedeutung. Damit sie ihre Kernfunktionen als Begegnungs- und Versammlungsort wahrnehmen können, müssen sie gut gestaltet sein und Aufenthaltsqualität bieten. Wesentliche Aspekte und Qualitätskriterien rund um die Orts- und Stadtkernentwicklung möchte ich in diesem Beitrag beleuchten.
„Der öffentliche Raum ist das Herz unserer Gesellschaft. Die Weise, wie wir den öffentlichen Raum nutzen und gestalten, erzählt uns etwas über die Menschen und die Art ihres Zusammenlebens.”
Hans Mondermann, 1947- 2008
Der dänische Architekt Jan Gehl gilt als Pionier und Experte für die Gestaltung lebenswerter Städte. Früher belächelt, gehört er heute zu den einflussreichsten Stadtplanern weltweit.
Wer nach praktikablen urbanen Zukunftsrezepten sucht, findet in Gehls Büchern Leben zwischen Häusern, Städte für Menschen oder Leben in Städten umfangreiches Anschauungsmaterial.
Ein ausführliches und sehr interessantes Gespräch mit Jan Gehl hat Micheal Kerbler für Stadtmarketing Austria geführt.
Einfache Qualitätskriterien wie diejenigen von Gehl können also zur Überprüfung der Qualität von Ortskernen im Rahmen der Planung verwendet werden. Sie bieten eine sehr gute Unterstützung, um bei der Entwicklung von öffentlichen Räumen wichtige Nutzungsbedürfnisse nicht zu vergessen.
Die insgesamt neun Kriterien sind auf die verschiedenen Typologien des öffentlichen Raums mit Straßen, Plätzen, Parks etc. anwendbar. Gehl ordnet sie daher den drei Kategorien Schutz, Komfort/Wohlbefinden und Freude zu. Jedes Kriterium wird dann mit „gut, durchschnittlich oder schlecht“ bewertet.
Öffentliche Räume mit einer hohen Aufenthaltsqualität ermöglichen eine Vielfalt von Aktivitäten, die sich dann optimalerweise gegenseitig unterstützen. Hilfreich für das Verständnis der Aufenthaltsnutzungen ist das Konzept der Aufenthaltsaktivitäten nach Jan Gehl:
In seinen Studien konnte Jan Gehl nachweisen, dass eine Verbesserung der räumlichen Bedingungen schließlich zu einem Anstieg der Fußgängerzahl, längeren Aufenthaltszeiten im Freien sowie zu einem breiteren Spektrum an Aktivitäten führten.
Die Dichte an sozialen Aktivitäten ist ein Indikator für den Erlebnisreichtum und die Attraktivität des Ortes.
Wenn öffentliche Räume über eine gute Aufenthaltsqualität verfügen, finden optionale Aktivitäten häufiger statt, was dann in weiterer Folge zu einer Zunahme sozialer Aktivitäten führt. Demnach kann die Stadtplanung also beeinflussen, wie viele Personen öffentliche Räume im Ortskern nutzen, wie lange individuelle Aktivitäten dauern und welche Arten an Aktivitäten sich entwickeln können.
Für die Attraktivierung von Orts- und Stadtkernen bestehen vielfältige Möglichkeiten. Wichtige Aspekte in Hinblick auf die Aufenthaltsqualität sind vor allem die architektonische Qualität, das Mikroklima und die Reduktion der Dominanz des Autos im Ortskern.
Die Ausstattung des Ortskerns mit konsumfreien Zonen und Sitzgelegenheiten hat wesentlichen Einfluss auf die Aufenthaltsqualität, insbesondere für Verweilaktivitäten wie beispielsweise Ausruhen, Essen, Lesen oder Sonnenbaden. Unterschieden wird hierbei in primäre und sekundäre Sitzmöbel.
Ersteres sind für das Sitzen konzipierte Möbel wie Bänke und Stühle, Zweiteres kann alles beinhalten, auf dem man sitzen kann.
Für die Anordnung und Auswahl der Sitzgelegenheiten gilt es daher, die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzergruppen zu beachten.
Ältere Menschen ziehen beispielsweise komfortable Sitzgelegenheiten vor, während junge Menschen gerne auf Rasenflächen, Treppen und Mäuerchen sitzen.
Eine funktionierende und ansprechende Beleuchtung kann enorm zur ästhetischen Aufwertung des Ortskerns und zur Sicherheit beitragen. Das im Rahmen des Masterplan Ortskern entwickelte Beleuchtungskonzept von St. Johann umfasst beispielsweise drei Ebenen:
Das Zusammenspiel dieser Elemente bewirkt nachts einen fein modulierten Lichtraum mit einer guten Sichtbarkeit ohne Blendwirkungen. Die Beleuchtung ist dann zentral steuerbar und erreicht bereits mit der derzeit eingestellten Leistung von 20 Prozent die benötigte Lichtstärke. Per Knopfdruck lässt sich die Lichtstärke jederzeit anpassen, um dann für bestimmte Anlässe oder Veranstaltungen eine stimmige Atmosphäre zu kreieren.
Die Qualität der verwendeten Materialien für Möblierung und Bodengestaltung ist in Hinblick auf die Wirkung oft genauso wichtig für die Aufenthaltsqualität wie die Gestaltung der umgebenden Hausfassaden und die Beleuchtung.
Die einzelnen Gestaltungselemente sollten daher sorgfältig aufeinander abgestimmt und mit hochwertigen Materialien ausgeführt sein. Ein asphaltierter Ortskern wird schließlich niemals dieselbe Aufenthaltsqualität aufweisen wie ein gepflasterter oder anderer hochwertiger Bodenbelag.
In Bregenz hat man beispielsweise für den Kornmarktplatz einen Splitmastixbelag in gelber Tönung mit Beimischung von weißem Kantkorn in gefräster (geschliffener) Oberfläche gewählt.
Der Kornmarktplatz wurde im Rahmen eines breit angelegten, mehrstufigen Beteiligungsverfahrens neu geplant und als Fußgängerzone gestaltet. Die angrenzende Rathausstraße wurde dann zu einer Begegnungszone.
Günstige klimatische Bedingungen haben eine nachweislich positive Auswirkung auf die Aufenthaltsqualität und -dauer in Straßen und auf Plätzen.
Daher sollte bereits in der Planungsphase darauf geachtet werden, stadtklimatische Aspekte wie beispielsweise Hitzeinseln, Frischluftschneisen oder Kaltluftseen zu berücksichtigen.
Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang sind auch Schattenangebote oder der Einsatz von Bepflanzungen als Struktur- und Gestaltungselement.
Die Lebens- und Aufenthaltsqualität erfährt eine deutliche Verbesserung durch Verkehrsraumgestaltungen, die im Ortskern Fuß-, Rad- und Autoverkehr sowie andere räumliche Funktionen miteinander ins Gleichgewicht bringen. In den letzten Jahren fanden Shared Spaces und Begegnungszonen immer mehr Anklang und wurden bereits in vielen Städten und Gemeinden umgesetzt.
Hinzu kommt der Trend zur autofreien Innenstadt, der sich schließlich in der zunehmenden Verlagerung des Individualverkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsformen wie Radfahren oder öffentliche und gemeinschaftlich genutzte Verkehrsmittel spiegelt (Modal Shift). Städte sollten diese Entwicklung berücksichtigen, wenn sie ihr Verkehrskonzept entwickeln.
Die Ortskernentwicklung stellt einerseits eine bauliche Herausforderung dar, um vorhandenen Funktionsbedarf abzudecken. Andererseits muss sie an die sozialen und ökonomischen Bedürfnisse und Potenziale gekoppelt sein, um qualitativ nachhaltige Ergebnisse zu erzielen.
Es ist daher empfehlenswert, möglichst viele Bürger, Immobilienbesitzer und Gewerbetreibende in ihrer Funktion als Experten vor Ort in den Planungsprozess und die Ausarbeitung eines Gesamtkonzeptes bzw. Masterplans einzubinden.
Für die Entwicklung eines Konzepts zur Ortskerngestaltung stehen verschiedenste Modelle und Methoden zur Verfügung. Eine effiziente Möglichkeit besteht in der Durchführung eines strukturieren Beteiligungsverfahrens, welches in aufeinander aufbauenden Entwicklungsphasen abläuft:
Die Bildung eines Kernteams gewährleistet die laufende Kommunikation des Verfahrens sowohl im Rahmen interner Abstimmungen als auch in Hinblick auf Einbeziehung interessierter Bürger.
Das Leitbild erfasst Problemstellungen und Potenziale in sozialer und funktionaler Perspektive und definiert schließlich, welchen Anforderungen der Ortskern und das Leben vor Ort in Zukunft erfüllen soll.
In einem weiteren Schritt wird das soziale Leitbild in ein räumliches Leitbild übertragen, welches die Bereiche Raumorganisation, Siedlungsstruktur und Gestaltung umfasst:
Anschließend werden dann die Ergebnisse in einem Masterplan zusammengeführt.
Der Masterplan integriert die Verkehrsplanung, Raumqualität und Ausführungsplanung. Er dient also als Basis und Leitlinie für die Ortskernentwicklung in Hinblick auf strukturelle und gestalterische Maßnahmen, z.B.:
Die Umsetzung liegt in der Regel in der Zuständigkeit des Gemeindebauamts. Ein entscheidender Punkt für die erfolgreiche Umsetzung ist also die frühzeitige und kontinuierliche Kommunikation mit allen Beteiligten. Hier könnte beispielsweise das Stadtmarketing als Bindeglied zwischen Bauamt und betroffenen Hausbesitzern und Gewerbetreibenden eine unterstützende Rolle spielen.
In vielen Ortskernen gibt es baukulturell bedeutende Gebäude, die es zu erhalten und zu schützen gilt. Diverse Gremien zur fachlichen Unterstützung in baukulturellen Fragen können daher im Zuge von Bauvorhaben einen wichtigen Beitrag zur Förderung der qualitativen Stadtentwicklung leisten.
In Tirol wurde bereits 1976 das Stadt- und Ortsbildschutzgesetz (SOG) ins Leben gerufen, um die architektonisch qualitätsvolle Gestaltung der Stadt- und Ortsbilder sicherzustellen.
In anderen Städten und Dörfern werden im Zuge konkreter Planungsvorhaben unabhängige Gestaltungsbeiräte oder ähnliche Gremien eingesetzt, um schließlich die ortsbauliche und architektonische Qualität abzusichern.
Die Außenbereiche von Geschäften und Gastronomiebetrieben haben einen prägenden Einfluss auf das Erscheinungsbild des öffentlichen Raums. Um ein attraktives Stadt- oder Ortsbild zu erhalten, sollte daher auf Qualität und Einheitlichkeit der Gestaltungselemente geachtet werden.
Die Erstellung eines „Gestaltungsleitfadens“ macht es für Gastronomen und Gewerbetreibende deutlich einfacher, sich zu orientieren. Der Leitfaden kann schließlich als Nachschlagewerk dienen und viele Wege zum Amt überflüssig machen. Wichtige Themen eines Leitfadens sind vor allem folgende Aspekte:
Grundsätzlich sollte ein möglichst hoher Qualitätsstandard in Hinblick auf Farbtöne und Materialien von Tischen und Stühlen angestrebt werden (z.B. keine Vollkunststoffstühle und -tische oder Biergartenmöblierungen). Auch trennende Elemente wie Zäune, Glaselemente, Windschutzelemente müssen in das Stadtbild passen.
Schirme und Markisen sollten sich als besonders raumwirksame Elemente an die angrenzende Umgebung bzw. Fassade anpassen und harmonisch in das Ortsbild eingliedern.
Relevante Faktoren sind also etwa Gestalt, Farbe, Größe, Material und Art der Befestigung. Auf die Verwendung einheitlicher Schirme und den Austausch beschädigter Schirme ist vor allem bei Gastronomiebetrieben zu achten.
Falls sich Werbeaufdrucke auf Schirmen oder Markisen nicht vermeiden lassen, sollten diese zumindest dezent gestaltet sein.
Warenauslagen sollten schließlich nicht als Werbeflächen dienen, um eine Überladung des öffentlichen Raumes zu verhindern. Weiters ist auf eine einheitliche Gestaltung und hochwertige Ausführung zu achten (Form, Material, Höhe, Größe, Farbe). Auch sollten Warenauslagen so platziert sein, dass sie nicht als Hindernis wahrgenommen werden.
Mobile Werbeobjekte und Kundenstopper sollten also möglichst nur für besondere Werbeaktionen eingesetzt werden, um eine Überfrachtung zu vermeiden.
Für Gastronomiebetriebe muss hier allerdings die Möglichkeit bestehen bleiben, Tagesangebote auf Tafeln (Schiefertafeln, Holzaufsteller) auszuzeichnen. Generell ist auf eine ansprechende Qualität zu achten.
Werbeanlagen wie Werbeschriftzüge an Fassaden oder Nasenschilder können das Ortsbild nachhaltig stören. Sie unterliegen daher in der Regel einer Genehmigungspflicht.
Grundsätzlich gilt auch hier, dass eine Zweckentfremdung von Fassaden oder Markisen, grelle und leuchtende Farbtöne oder Lichteffekte wie Lauflichter zu vermeiden sind. Als dezente Alternativen bieten sich gemalte Schriftzüge oder Schilder im Stil der alten Innungs- und Zunftzeichen an.
Ein Übermaß an Begrünungselementen führt rasch zu einer optischen Verengung des Raums. Als Gestaltungselement zur Auflockerung des Stadtbildes bieten sich daher alternativ Begrünungselemente in hochwertigen und einheitlichen Pflanzgefäßen (Terrakotta, Metall) an.
Lebenswerte Städte und Gemeinden zeichnen sich durch lebendige öffentliche Räume mit hoher Aufenthaltsqualität aus. Orts- und Stadtkerne müssen daher gezielt als Wirtschafts- und Erlebnisraum gestärkt und entwickelt werden.
Geeignete Maßnahmen sollten gemeinsam mit interessierten Bürgern erarbeitet und professionell umgesetzt werden. Wenn sowohl das Know-how des Stadtmarketings als auch die Kontakte zu Stakeholdern im Zuge der diversen Maßnahmen eingebracht werden können, ermöglicht dies eine ganzheitlichere Betrachtung und eine reibungslosere Umsetzung.
In St. Johann hat das Ortsmarketing sehr gute Erfahrungen damit gemacht, die verschiedenen Bau- und Gestaltungsmaßnahmen gemeinsam mit der Gemeinde abzuwickeln. Unsere Zuständigkeit umfasst dabei vor allem die Projektkoordination, Kommunikation nach außen und die Abstimmung mit Anrainern, Gewerbetreibenden und Hausbesitzern.
Als konkretes Beispiel möchte ich abschließend den Masterplan Ortskern anführen. Die Anwesenheit des Ortsmarketings bei den Baubesprechungen hat es zum einen ermöglicht, unser Wissen und Know-how einzubringen (z.B. wo müssen für Veranstaltungen Stromanschlüsse sein), zum anderen konnten wir auf diese Weise Hausbesitzer und Gewerbetreibende besser über die nächsten Schritte informieren.
Auch bei Themen wie Absperrungen, Beschilderungen und dergleichen konnten wir uns gestalterisch einbringen (z.B Pflanzentröge als Absperrung anstelle von unattraktiven Baugittern) und natürlich bei der Ausrichtung der Eröffnungsfeier. Eine gute Zeitplanung und die laufende Koordination mit allen Beteiligten haben gegenseitiges Verständnis geschaffen und Spannungen zwischen verschiedenen Interessensgruppen verhindert.
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Titelbild (c) Ortsmarketing St. Johann in Tirol
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