Edgar Eller im Interview mit Prof. Dr. Jana Revedin

12.10.2022
Architektur

jana-edgar

Mag. Edgar Eller, Vizepräsident von Stadtmarketing Austria, selbständiger Unternehmensberater und Hochschullehrer, im Gespräch mit Prof. Dr. Jana Revedin, Architektin und Autorin, über atmosphärische Stadtgestaltung.

 

Hallo und herzlich willkommen beim Podcast von STAMA Austria, dem Dachverband der österreichischen Stadtmarketing-Organisationen. Einmal im Jahr trifft sich der Dachverband zur sogenannten DenkwerkStadt, um über die Zukunft der Städte und die Möglichkeiten, diese Zukunft zu gestalten, nachzudenken.

Eingeladen sind neben den Kolleginnen und Kollegen aus Österreich auch immer Expertinnen und Experten aus der Soziologie, der Philosophie, Architektur, der Kultur oder der Regionalentwicklung. Neben dem direkten Austausch in der DenkwerkStadt laden wir Sie auch immer zum Gespräch für unseren Podcast, wenn wir schon mal die Möglichkeit haben, uns mit Ihnen zu unterhalten.

Mein heutiger Gesprächsgast ist Prof. Dr. Jana Revedin. Jana Revedin studierte Architektur und Städtebau in Buenos Aires, Princeton und Mailand und habilitierte an der Universität Venedig über das Verständnis des öffentlichen Raums als Katalysator demokratischen Selbstverständnisses in der deutschen Reform-Moderne.

Sie ist Verfasserin mehrerer Standardwerke der Architekturtheorie und ist daher die ideale Gesprächspartnerin über den Begriff der atmosphärischen Stadtgestaltung.

 

Das Gespräch zum Nachhören:

Das Gespräch zum Nachlesen:

Edgar Eller: Guten Morgen liebe Jana, schön, dass du da bist.

Jana Revedin: Guten Morgen und vielen Dank für die Einladung.

Edgar Eller: Wir sitzen hier im Kloster Neustift, in einem sehr alten Gebäude, das zum einen eine sehr große Geschichte hat, dessen Entstehung aber auch klaren Regeln folgte. Die Art und Weise, wie ein Kloster gebaut wurde, hat sehr viel mit dem Lebensentwurf und dem Menschenbild der Mönche zu tun, die diese Anlage errichtet haben.

Wenn wir so eine Großanlage vergleichen mit einer modernen Stadt, oder mit Stadtvierteln oder grundsätzlich mit neu errichteten Gebäuden, können wir aus diesen Anlagen und aus dieser Logik, die dahinter steht, auch für heute noch etwas lernen? Oder war das einfach eine andere Zeit und heute gelten andere Regeln?

 

Atmosphärische Stadtgestaltung
Kloster Neustift © Heinz Mitteregger

 

Wir können alles aus der Urbarmachung der Welt durch religiöse oder philosophisch-ethisch vereinte Gruppen lernen. Es ist immer die Vereinigung, immer die Gruppe, die einer bestimmten Auffassung folgt. Sei diese religiöser oder philosophischer oder auch politischer Art. Alles ist ja politisch am Ende.

Die Mönche in unserem Kulturraum Europa im Mittelalter, aber auch andere Gruppierungen, – nehmen wir die Indios in den Anden, oder im asiatischen Raum die Glaubensgemeinschaften, die selbst in unwirtlichsten Gegenden der Welt, sich die Welt, ihr Territorium, ihren Grund urbar gemacht haben-, von denen können wir so wie damals, heute lernen.

Carlo Cattaneo, ein großer Wissenschaftler, Gründer des Mailänder Polytechnikums vor 150 Jahren, auch Politiker, sagt sehr schön: „Es gibt keinen natürlichen Raum noch heute auf der Erde, der nur der Natur Untertan wäre.“ Er sprach vor 150 Jahren, wo wir ein Zehntel der Weltbevölkerung von heute hatten. Der Mensch hat sich diesem Auftrag gestellt.

Es steht ja in allen Religionsbüchern, dass der Mensch bitte sich diese Erde gestalten möge.

Ob wir sie nun zu Tode gestaltet haben mit der Industrialisierung und der modernen Energieausbeute, ist eine große Frage. Aber zu seiner Zeit sagt er, vor 150 Jahren, der Mensch sollte diesen Lebensraum bestmöglich gestalten, respektvoll natürlich.

Aber wenn wir eine Landschaft anschauen, wie heute diese wunderschöne Weinlandschaft, die hier schon seit mehr als tausend Jahren der Mensch für sich und für seine Kultur und für seine Kultivierung nutzbar gemacht hat, dann ist der zweite Satz, den Cattaneo sagt, sehr treffend.

Er sagt, die Erde, wie wir sie heute sehen, ist ein unendliches Reservoir menschlicher Mühe.

Ist das nicht schön? Wenn diese Mönche sich nicht jeden Tag um fünf Uhr nach ihrer Morgenmesse auf ihre Weinberge aufgemacht hätten?! Und das war eine wunderbare Verteilung, je nach Talent und je nach persönlichem Willen und Können, sich nutzbar zu machen, auch in der Gemeinschaft der Mönche.

Der eine machte die Küche, der andere den Weinkeller, der Dritte die Bienen, der Vierte den Garten, und die anderen machten eben die Weinberge.

Oder in anderen Gegenden der Welt eben andere Formen der Urbarmachung. Wenn das nicht von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr und Jahrhundert zu Jahrhundert weiter getragen worden wäre, hätten diese Anwesen, wie eine große Abtei, nie überleben können.

 

Atmosphärische Stadtgestaltung
Kloster Neustift © Heinz Mitteregger

 

Weinberge der Stiftskellerei Neustift © Simone Kocher

 

So eine Art von Lebensführung in einer in sich gewachsenen und einigen Gruppe ist die Grundlage aller nachhaltigen Entwicklung.

Deswegen heute, wenn wir uns ein Stadtviertel anschauen, oder sogar eine halbe Stadt, ein Quartier, eine ganze Stadt, dann können wir nur immer wieder auf diese Einigkeit im Willen der Gruppe zurückgreifen, sagt schon Ferdinand Tönnies, Begründer der Soziologie, 1910.

Nur die Einigkeit einer Gruppe, das ist im Kleinsten die Familie, dann ist es vielleicht eine Nachbarschaft, so wie hier eine Mönchsschaft, eine Mönchs-Familie, und dann ist es natürlich eine Wahlfamilie, sportlicher Art, politischer Art, gesellschaftlicher Art, kultureller Art.

Wenn wir diese Einigkeit erreichen in einem Lebensraum, dann werden wir den Lebensraum auch nachhaltig auf lange Zeit entwickeln können.

 

Edgar Eller: Das ist ein wichtiges Stichwort, weil die Mönche, die sich hier als Gruppe fanden oder als Gruppe begannen, die kannten ihre Spielregeln. Die waren per se oder per Definition einig, weil deren Spielregeln sie sich ja nicht selber auferlegt haben. Sondern das waren klare Regeln, wie man als Mönch zu leben hat.

Das heißt, es waren jetzt auch nicht gerade die größten Individualisten, sondern es war dieses Kollektiv. Heute haben wir eine andere Situation. Heute sind wir Individualisten und haben ganz unterschiedliche Interessen.

 

Wie schaffen wir es in der Stadtplanung, in der Quartiers-Planung, diese Gruppe, von der du gesprochen hast, herzustellen? Oder dieses gemeinsame Bild?

Mit welchen Werkzeugen kann man arbeiten, dass ein Plan entsteht, aus dem dann im Idealfall Gebäude entstehen. Oder sollte es andersherum sein, zuerst das Gebäude und dann die Nutzung? Ich schätze eher nein?

Jana Revedin: Wir sollten immer zuerst wertschätzen, was schon da ist. Das ist die Ressource jedes Ortes. Das macht den Charakter des Ortes aus.

Wenn die moderne Soziologie von Place-Making spricht, dann ist das im besten Sinne so zu verstehen, dass wir den Platz, den Ort erst einmal wahrnehmen mit allen Sinnen und mit allen Formen der Kartierung, der geografischen, geologischen, klimatologischen, natürlich auch anthropologischen. Es geht ja nicht nur um den Ort, sondern wer im Ort lebt, Kartierung und Analyse.

 

Atmosphärische Stadtgestaltung
Ortsanalyse in Franzensfeste. Im Bild: Jana Revedin mit Vize-Bgm. Richard Amort.

 

Atmosphärische Stadtgestaltung
Im Bild Jana Revedin mit Bürgermeister Klapfer bei der Präsentation der Ergebnisse der Ortsanalyse.

 

© Heinz Mitteregger

 

Wenn wir diesen Ort einmal verstanden haben, das braucht relativ viel Zeit. Man muss Zeit an dem Ort verbringen und man muss sich auch in den Ort einschreiben. Am besten dort wohnen. Wenn wir eine Stadt oder ein Quartier analysieren, auch mit meinen StudentInnen, dann bleiben wir da über mehrere Semester. Wir wohnen bei den BewohnerInnen. Nur so kann man einen Ort begreifen.

Wie auch hier in einem Kloster. Man geht morgens um sechs durch die Gänge. Und obwohl das heute kein Kloster mehr ist, spürt man diesen Geist noch. Man spürt diese Stille, diese in sich ruhende Getragenheit, die immer von einer, wie Sie das richtig verstehen, immer von einer Ordnung getragen wurde.

Einer Lebensordnung, oder einer auch transzendenten Ordnung natürlich. Wenn wir diesen Charakter des Ortes einmal begreifen und uns die Zeit dazu nehmen, dann sollten wir immer aus den Ressourcen dieses Ortes weiter entwickeln.

 

Place-Making heißt also, die Qualitäten eines Ortes zu begreifen, dann die Potenziale daraus zu entwickeln.

Das kann man nur in transdisziplinären Gruppen. Das können nicht nur ArchitektInnen oder StadtplanerInnen. Dazu sind sie leider bis zum heutigen Tag viel zu doktrinär ausgebildet, als große Stars, die alles wissen. Wir wissen gar nichts, der Ort lehrt uns alles.

Das kann ich nur gemeinsam, mit AnthropologInnen, BiologInnen, teilweise BotanikerInnen. Es kommt darauf an, wo wir sind auf der Welt-, aber natürlich auch PolitologInnen oder SoziologInnen, die uns erklären, wie die ökonomischen Verhältnisse hier sind? Wer hat die Macht, wie ist die Machtstruktur in dieser Stadt? Wer wird entscheiden? Aber auch wie ist die demografische Entwicklung?

Gibt es mehr Kinder, weniger Kinder, ziehen die Menschen weg, kommen sie eher her, aus bestimmten Gründen?

Oft haben wir jetzt durch die Bevölkerungsverschiebungen innerhalb von Europa von Osten nach Westen, Zuwächse von Menschen, die gar nicht wegen des Ortes gekommen waren. Sondern einfach weil sie sonst keinen Lebensraum mehr gehabt hätten, auf der Flucht sind und dort teilweise hängen bleiben, wo sie als erstes eine Möglichkeit des Überlebens geboten bekommen.

 

© Mike Chai on Pixabay

 

Wenn wir diese Mischungen erstmal verstanden haben, dann können wir die Potenziale, die dieser Ort ja schon seit Jahrtausenden meistens hat, weiterentwickeln.

Wir müssen aber auch, das ist ganz wichtig, und das tun wir auch heute in diesem kleinen Workshop hier, der mit anderthalb Tagen viel zu kurz ist, auf Gefahren hinweisen.

Gefahren, die meistens von IdeengeberInnen kommen, die aus meiner Zunft sind. „Reißen wir das doch ab! Ich mache Ihnen ein viel tolleres Gemeinschaftshaus oder ich baue Ihnen einen neuen Bahnhof!“ Warum?

Es ist oft genau dieser alte Bahnhof, aus dem vielleicht achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert, wo man die Bahn ja erstmal erfunden und entwickelt hat, der das Spezielle in diesem Ort noch ist.

Woran sich alle, die hier groß geworden sind, noch erinnern, als SchülerInnen, als MittelschülerInnen, als GymnasiastInnen, vielleicht dann nachher als StudentInnen. Diesen Bahnhof kennen sie, seit sie gehen können.

 

Atmosphärische Stadtgestaltung

Atmosphärische Stadtgestaltung
© www.suedtirolfueralle.it

 

Diese menschliche Komponente vergessen leider meine KollegInnen viel zu oft, weil sie sich selber verwirklichen wollen. Aber alles kommt zurück. Wenn ich diesen Bahnhof abgerissen habe oder dieses alte Bahnwärterhaus, dann ist es abgerissen. Dann kann es nur noch virtuell in der Erinnerung oder in der kollektiven Erinnerung, im kollektiven Gedächtnis dieser Gemeinschaft weiter leben.

Dann ist es zu spät. Das Neue, das wir bauen, müssen wir ArchitektInnen und StädteplanerInnen uns auch immer vor Augen führen. StädteplanerInnen im speziellen planen für hundert Jahre, zweihundert Jahre. Le Corbusier hat vor hundert Jahren die Städteplanung des zwanzigsten Jahrhunderts auf 150 Jahre ruiniert.

Ein eklatanter Fehler, die Autogerechte Stadt zu proklamieren. Und leider, die ProtagonistInnen des Bauhauses waren 1933, als Le Corbusier das in Athen vorstellt, alle auf der Flucht vor Adolf Hitler. Keiner konnte sich mit diesem jungen Schweizer ernsthaft befassen und wir tragen heute noch die Konsequenzen von diesem Futurismus-Wahn.

 

Wir hätten die Autogerechte Stadt nie gebraucht. Wir hätten auch die Autogerechte Landschaft nie gebraucht. Wie viel an Landschaft, an Territorium haben wir uns vertan?

Warum hat man nicht viel früher die Eisenbahn wieder entdeckt, die ja schon da war? Es sind Selbstdarstellungsprobleme, die uns meistens viel mehr im Weg stehen, als was der Ort uns wirklich bietet. Wenn wir einmal fragen, was ist schon da? Was wird am dringendsten gebraucht, in einer Zeitspanne?

Es kann nicht immer alles gleichzeitig gemacht werden, aber was bräuchte man am aller dringendsten, was ist dem Ort auch gerecht?

Place-Making heißt eben nicht, irgendeine Disney-Figur auf einen Platz zu stellen. Die passt dort nicht hin und die würde auch selbst den Kindern nicht gefallen, weil sie einfach außerhalb ihres Kontextes steht. Aber wenn wir uns fragen, was wird am dringendsten gebraucht und mit welchen einfachsten Mitteln könnte ich das kreieren? Teilweise auch gar nicht für die Ewigkeit.

Ich probiere mal etwas aus für zwei Wochen im Sommer, für ein Festival im Winter, für einen Weihnachtsmarkt, für einen Anlass, der in der Bevölkerung ja schon existiert. Und für Anlässe, die in neuen Gruppen der Bevölkerung, die jetzt sich immer mehr mischen, und das ist sehr gut so. Das ist der fruchtbarste Teil der menschlichen Entwicklung, dass Kulturen eben offen sind zum Mischen und wir das auch wirklich fördern, aktiv fördern.

Auch diese neuen Gruppierungen haben ihre Traditionen.

Vielleicht nicht unsere, weil sie vielleicht aus asiatischen oder orientalischen oder auch afrikanischen oder südamerikanischen Gruppierungen kommen. Ja, warum lassen wir das nicht zu? Wir haben es im Mittelalter ja auch zugelassen.

In Venedig, wo ich lebe, waren zwölf Ethnien und sechs Weltreligionen friedlich auf einem kleinsten Lebensraum zusammen gepfercht, müsste man heute fast sagen, und haben sich doch arrangiert und haben sich respektiert und waren die erfolgreichste Gesellschaft über 1600 Jahre, bis man dann Amerika entdeckte.

 

Edgar Eller: Dieser Geist des Ortes und diese transzendente Ordnung, von der du gesprochen hast, auch ergänzend um dieses Thema, dass wir nie eine Autogerechte Stadt gebraucht hätten, da stellt sich mir die Frage: Ist es so ein Universalismus, der grundsätzlich gelten würde, wie wir bauen sollten und wir vergessen es nur manchmal? Oder ist es eine Entwicklung, die heute einfach eine andere ist als vor hundert Jahren?

Hätten wir vor hundert Jahren schon wissen können, dass wir keine Autogerechte Stadt brauchen? Jan Gehl spricht vom menschlichen Maß, das wäre ja eigentlich so eine grundsätzliche Regel.

Glaubst du, es gibt eine strukturelle Ebene, auf der man richtige Entscheidungen treffen kann für die Stadtplanung, oder ist es einfach so, dass man hinterher klüger ist?

 

Edgar Eller © Heinz Mitteregger

Jana Revedin: Man sollte schon im Vorhinein klüger sein. Dazu werden wir ausgebildet und das sollte unser ethischer Arbeits- und Lebensauftrag sein. Das ist gerade das große Risiko, sobald ein Gestalter in einem Macht-Kontext eingebunden wird. Und das liebt die Politik. Sie liebt es, große Star-Projekte zu produzieren.

Die kosten teilweise mit einem Schlag mehr als die gesamte Stadtverwaltung über fünfzehn Jahre, die Schneeräumung, die Müllentsorgung und vielleicht das Gestalten von öffentlichen Lebensräumen, die die Bevölkerung wirklich zusammenbringt, statt einem Museum, was eine ostansässige, junge Familie vielleicht einmal im Leben besuchen kann, weil sie sich das grundsätzlich gar nicht leisten kann.

Wenn Gestaltung in Verbindung mit von oben nach unten Entscheidungen kombiniert wird, dann besteht die Gefahr, dass wir nicht mehr vorausdenken, wie sollte diese Stadt sich demütig denkend und demütig einfühlend denn aus sich selber heraus entwickeln?

Sondern dass wir eben nicht voraus sind, sondern nur für den jetzigen Augenblick. Das war auch bei Le Corbusier der Fall. Seine Thesen wurden entwickelt, damit er bauen konnte. Das war ein ganz egoistischer Auftrag.

Sein erster, großer Auftraggeber war die Republik von Vichy. Er war ein absolut faschistischer Mitläufer. Es ist inzwischen auch belegt und zum Glück stößt es sein geradezu königliches Ansehen in Frankreich endgültig vom Thron. Aber das kommt zu spät, leider.

 

Atmosphärische Stadtgestaltung
Jana Revedin © Heinz Mitteregger

 

Wir sollten immer uns selber zurücknehmen und auf den Ort hören.

Vor allem den Ort und sein Milieu. Also wer belebt diesen Ort heute und wer könnte ihn morgen, übermorgen und vielleicht in fünf Jahren beleben? Viel mehr vorausplanen können wir nicht, konnten wir aber auch schon zu Jesus-Christus-Zeiten nicht, auch dort wanderten die Menschen. Das hat nie aufgehört.

Wir hatten größte Ströme von Völkerwanderungen, alle zwei, drei Jahrhunderte wiederholt sich das. Ob sie nun von Osten nach Westen oder eher von Norden nach Süden ziehen oder von Süden nach Norden, das liegt immer an natürlich kriegerischen Entwicklungen oder Bedrohungen.

Das liegt aber auch an Natur-Veränderungen. Die Natur lebt ja auch, sie verändert sich ständig. Wenn die Klimazonen eben wärmer oder wieder kälter werden, vertreiben sie gewisse Bevölkerungsgruppen. Natürlich denken wir daran, dass nicht nur wir Menschen Lebewesen sind. Wir haben eine Flora und eine Fauna, für die wir verantwortlich sein sollten.

 

 

Wenn in der Bibel steht, „mach dir die Erde Untertan“, dann soll das heißen, respektiere die Erde, pflege sie, nicht nutze sie aus!

Deswegen ist dieses Nicht-Vorausdenken in einer respektvollen, demütigen, sich unterordnenden Art, sondern einfach sich irgendwo platzieren und nach mir die Sintflut, eine falsche Ethik unserer Zunft.

Denn nach mir die Sintflut ist nicht wahr. Wenn wir irgendwo eingegriffen haben und es ist nicht mehr reparabel, dann fällt das ja auf uns zurück.

Es wird jeder, der an einem Bauwerk vorbeigeht, das nicht wirklich in diesen Kontext passt und sich auch nicht entsprechend bewährt,- weil die Menschen lieben nicht, was sie nicht in Schönheit, auch in Fröhlichkeit, auch in einfach Überraschung anspricht-, dann sagen, na ja, das hat der damalige Herr oder Frau so und so verantwortet und der damalige Politiker, der dafür die Finanzen auch aufgestellt hat. Es kommt alles zurück, oft leider viel zu spät.

 

Edgar Eller: Kommen wir von den ganz großen StadtplanerInnen auf unsere Zunft. Also im weitesten Sinne, ich nenne es jetzt mal Stadtkuratoren und Stadtkuratorin, also Leute, die entweder im Stadtmarketing oder in der Stadtverwaltung oder in der Politik, an irgendeiner Stellschraube Städte gestalten.

Welche Tipps hast du für diese Gruppe? Wie können wir Werkzeug sein von einer Stadtentwicklung mit menschlichem Maß?

Jana Revedin: Indem sie zunächst einmal diese Stadt kennenlernen. Nicht jeder arbeitet ja in einer Stadt, die er schon seit Jahren kennt. Dafür muss man sich Zeit nehmen, bevor man ein großes Plädoyer vorlegt, ich mache das und das und das. Es ist leider in der Politik heute Gang und Gebe, dass man viel zu schnell schon postuliert, was in den nächsten drei Jahren geschehen wird.

Leider hat die Politik ja auch sehr kurze Ablaufzeiten. Es geht immer, nach der Wahl ist vor der Wahl. Viel zu kurze Perioden, um wirklich einmal einen Stadtraum kennen zu lernen, indem Sie (StadtkuratorInnen) dort auf längere Zeit zum Glück besetzt sind, kann ich nur raten, wie ein Kind mit ganz offenen Augen durch diese Städte zu gehen. Am Abend, am Morgen, auf den Schulwegen.

 

Gemeinsam mit Jan Gehl, mit dem ich ja jahrelang in Schweden gelehrt und geforscht habe, haben wir zwei Arten der Stadterforschung entwickelt: Tracking und Tracing.

Entweder wir zählen auf einem kleinen Platz, auf einer Straße zu bestimmten Tages- und Abend-, und natürlich auch Jahreszeiten. Beim Tracking zählen wir die Bewegung der Menschen. Wir fotografieren, wir zählen sie schlicht ab, wir zeichnen Linien über einen Platz.

Wie gehen diese Menschen? Die gehen nicht danach, was der/die ArchitektIn gestaltet hat. Sie gehen so, wie der kürzeste Wege ist. Oder sie gehen dem Wind aus dem Weg. Sie gehen von der Sonne weg im Sommer, sie gehen in die Sonne hin, im Winter.

Also erstmal Tracking, wie wird dieser Lebensraum wirklich benutzt und von wem?

Etwa Kindern in moslemischen Kulturkontexten. Keine Frauen im öffentlichen Raum. Sie dürfen nicht im öffentlichen Raum sein, wenn sie nicht einen konkreten Auftrag haben, zum Markt gehen, das Kind von der Schule holen, in die Moschee gehen. Aber sonst, wird sich keine Frau je öffentlich auf einen Platz setzen, um dort die Zeitung zu lesen oder auf ihr Handy zu schauen.

Kinder ja, bis zu einem gewissen Alter. Sind das ältere Menschen, sind das vielleicht sogar Kranke, Behinderte, schwache Teile der Gesellschaft, die vielleicht gerne in den öffentlichen Raum kommen, weil sie endlich mal andere Menschen sehen und nicht nur eingesperrt in ihren Häusern oder Heimen sitzen?

Auch wichtig zu beachten: Gibt es schon eine Mischung, Kinder und ältere Menschen, Erwachsene, die relativ schnell zur Arbeit gehen und wieder zurück? Das ist Tracking.

 

Tracing ist noch eine Stufe mehr. Wir verfolgen Menschen über einen Tag und über eine Nacht.

Ist ganz interessant zu sehen. Natürlich kommen sie da drauf und wir sagen dann, wir machen das aus akademischen Studien-Gründen. Dürfen wir bitte Sie nochmal zwei, drei Tage verfolgen? Teilweise amüsiert sie das dann auch. Sie sagen, Sie können sogar fotografieren, Sie können das sogar filmen.

In anderen Kulturgruppen muss man sehr vorsichtig sein und vorher fragen. Wir machen hier eine Studie, würden Sie erlauben? Aber es funktioniert immer, wenn man es richtig kommuniziert. Das Tracing ist noch viel informativer. Wir suchen uns anthropologisch vorher ausgedacht die Gruppen aus, die im öffentlichen Raum vielleicht fehlen.

Wie wir seit hundert Jahren wissen, seit Max Weber, es ist die Mischung, die die Qualität eines Lebensraumes ausmacht, nicht die Dichte und auch nicht die Größe. Das kleinste Dorf kann urbaner sein als eine Großstadt.

Diese Mischung analysieren wir vorher und sagen, es ist komisch, warum sind eigentlich keine Schulkinder unterwegs? Weil man dummerweise die Schulen in die Randgebiete verlegt hat vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren, wegen der Autogerechten Stadt.

Warum sind eigentlich keine RollstuhlfahrerInnen da? Warum sieht man hier keine älteren, gebrechlichen Menschen, die vielleicht mit ihren Verwandten oder ihren Hilfen sich auf den Platz in den Schatten setzen, um sich ein bisschen, den Markt anzuschauen?

Weil das Altersheim auch in die Peripherie gesetzt wurde. Oder der Platz nicht barrierefrei erreichbar war. So kompliziert und so mühsam, dass man beim dritten Ausflug gesagt hat, also, das tue ich meiner Hilfe hier nicht mehr an, das ist einfach zu anstrengend.

Das Tracing gibt uns dann in diese minder-repräsentierten Gruppen einen tiefen Einblick.

Dann kann man diese Menschen natürlich auch interviewen. „Hätten Sie fünf Minuten für mich Zeit? Dürfte ich drei Fragen stellen?“ Sie antworten, weil jeder Einzelne Interesse daran hat, dass sein Lebensraum sich besser entwickelt, für sich selbst, ganz klar. Das ist eine ganz gesunde, auf sich bezogene Sichtweise. Diese Menschen helfen uns dann.

Wenn wir in jeder Art von partizipativer Entwicklung, die ich nur empfehlen kann, die man natürlich mit ExpertInnen durchführen muss, aus bestimmten Aussagen auswählt. Wenn die alte Dame gesagt hat, ich darf nicht mehr auf meinen Hauptplatz, weil es einfach zu anstrengend ist. Ich komme weder die Treppe bei mir hinunter, noch über eine Schwelle, noch über die Straßenbahn-Schwelle. Es ist einfach nicht für mich geplant worden. Ich bin ausgeschlossen.

Wenn wir drei, vier solcher wirklich dringende Bedürfnisse dann präsentieren, sagen wir mal, nur in einem Bodenplan, in einer Bodengestaltung. Wir gehen jeden Tag auf vielen verschiedene Böden. Wir können uns wohl fühlen oder eben nicht, wir können willkommen sein oder eben nicht.

 

 

Wenn wir die dann berücksichtigen und bei einer Gestaltung diese alte Dame auch einladen, die Schulkinder, die fehlen, und vielleicht die arbeitende Bevölkerung, die sagt, ich bin schnell unterwegs, aber ich hätte gern einen Ort, wo ich mich doch mal zehn Minuten kurz hinsetzen kann und ein freies WIFI hätte, wo ich kurz mal drei Mails beantworte, um nicht ständig immer alles gleichzeitig machen zu müssen. Gehen oder fahren oder Fahrrad fahren und Telefon annehmen.

Wenn wir die berücksichtigen und dann auch zitieren, dann trägt jeder Einzelne dieses Projekt.

Jeder Einzelne wird seinem/seiner NachbarIn und in der Schule und im Altersheim und im Büro sagen: „Also jetzt bin ich mal ernst genommen worden.“

Solch eine Verwurzelung, deswegen ist ja meine Methode radikant im Boden verwurzelt, wie der Efeu, mit vielen, vielen Wurzeln. Wenn wir diese vielen Wurzeln endlich einmal ernst nehmen und denen zuhören und sie dann auch zitieren, dann hat ein Projekt wirkliche Bodenhaftung.

 

Im Gegenteil, wenn ich von oben herunter irgendetwas drauf schmeiße, dann wird sich sofort eine Polemik in der Bevölkerung entwickeln. Sie werden sofort sagen, ja, da kommt einer, ich sage jetzt mal, mit einem neuen Vergnügungspark, einem Riesenrad, irgendetwas, was so einfach mal hingehauen wird. Ein paar werden sagen: Ja, endlich mal was Lustiges!

Aber nach zwei Tagen ist es auch nicht mehr so lustig, weil dann hat man einmal die Runde gedreht und man kommt da nie mehr zurück. Also entsteht dann sofort eine Polemisierung, dafür oder dagegen.

Das passiert bei einer radikanten Entwicklung nie, weil wir so viele Menschen befragen und so viele Meinungen einholen und auch mit externen ExpertInnen kommen, die ein ganz neutrales Auge auf diesen Ort werfen. Die auch überhaupt kein Interesse haben, sich Macht-mäßig oder finanziell zu realisieren, dann wächst ein Projekt aus dem Urboden dieses Ortes und dann wird es auch getragen.

 

Titelbild: Edgar Eller im Gespräch mit Jana Revedin © Heinz Mitteregger

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Edgar Eller

Selbständiger Unternehmensberater und Hochschullehrer.

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